Immer weniger Freiheit der Kunst

Maxim Billers „Esra“ ist nicht das einzige Buch, das bei Richtern auf zunehmende Verbotslust stößt. Kleine Bestandsaufnahme der neuesten Neigung zur Zensur

Die Freiheit der Kunst schrumpft. Diese Tatsache ist allein schon erstaunlich genug. Schließlich wird die Kunstfreiheit, die zum Tafelsilber jeder liberalen Gesellschaft gehört, vom Grundgesetz ohne Einschränkung garantiert. Trotzdem hat sie in jüngster Zeit spürbar Federn gelassen. Es sind die Gerichte, die sie Scheibchen für Scheibchen beschneiden und zurechtstutzen, sobald sie mit einem anderen Grundrecht in Konflikt gerät, dem Recht auf Schutz der Persönlichkeit und Intimsphäre. Das Thema ist umstritten wie kaum ein anderes. Selbst das Bundesverfassungsgericht, Deutschlands höchstes Rechtsorgan, ist sich seiner Sache nicht sicher, wenn es gilt, zwischen Kunstfreiheit und Persönlichkeitsschutz abzuwägen. Als es 1971, im berühmten Verfahren gegen Klaus Manns Roman „Mephisto“, das Verdikt des Bundesgerichtshofes bestätigte, fiel seine Entscheidung denkbar knapp aus. Drei Richter plädierten für eine Freigabe des Buches, drei dagegen. Um das Verbot aufzuheben, wäre eine Mehrheit notwendig gewesen. Ähnlich beim jüngsten Urteil zu Maxim Billers Roman „Esra“: Fünf Richter sahen durch das Buch Persönlichkeitsrechte verletzt und untersagten seine Publikation. Immerhin drei Richter desselben Senats erklärten dieses Urteil ausdrücklich für einen „verfassungswidrigen Eingriff“ in die Grundrechte von Autor und Verlag und hielten ihren Kollegen vor, die Rechte der Literatur zu missachten. Die Verbotsverfahren laufen fast immer nach dem gleichen Schema ab. Ein Kläger glaubt sich in einer Roman-, Film- oder Theaterfigur wiederzuerkennen und fühlt sich verleumdet, da die Figur nicht in allen Zügen seinem positiven Selbstbild entspricht. Die Richter prüfen dann, wie groß die Ähnlichkeiten zwischen fiktiver Gestalt und realer Person sind und fällen typische „Je-desto“-Entscheidungen: Je negativer oder intimer eine Kunstfigur beschrieben wird, desto stärker muss sie gegenüber ihrem angeblichen Vorbild verfremdet sein. Früher galt das allerdings nur für den klassischen Schlüsselroman, dessen Held einer weithin bekannten Persönlichkeit zum Verwechseln ähnlich sieht, weshalb jedermann in der Romanfigur sofort die Karikatur des realen Menschen zu sehen glaubt. Durch das „Esra“-Urteil haben die Verfassungsrichter die Gewichte massiv zum Nachteil der Kunstfreiheit verschoben: Nun reicht es für eine Verurteilung bereits aus, wenn nur das enge Umfeld der Betroffenen Parallelen zwischen Fiktion und Wirklichkeit meint ausmachen zu können. Sicher, es hat gute Gründe, wenn die Justiz die Bürger davor schützen möchte, dass noch ihre privatesten Lebensumstände in die Öffentlichkeit gezerrt werden. Wie Boulevardzeitungen und Yellow Press mit prominenten oder auch ganz unbekannten Zeitgenossen umspringen, ist oft skandalös. Doch Romane, Dramen oder Filme sind keine Tatsachenberichte. Während Zeitungsartikel oder Sachbücher für sich in Anspruch nehmen, über Fakten zu informieren, werden in Kunstwerken Fiktionen entfaltet. Sie berufen sich ausdrücklich nicht auf Tatsachen, sondern auf die Fantasie ihres Schöpfers. Sachbücher oder Zeitungsartikel lassen sich an der Frage messen, ob sie Wahrheiten oder Unwahrheiten über reale Personen verbreiten. Mit der gleichen Frage an einen Roman heranzugehen, ist unsinnig, denn seine Handlung ist weder wahr noch unwahr, sondern erfunden. Natürlich gibt es immer unbedarfte Leser, die in einer Geschichte nur einen Abklatsch dessen sehen wollen, was der Autor erlebt hat – und so die eigentlich künstlerische, das Erlebnismaterial literarisch formende Leistung des Autors verkennen. Dieses Missverständnis ist so alt wie die Literatur selbst. Aber es ist nicht einzusehen, weshalb es der Literatur zur Last gelegt wird. „Wer eine Geschichte ‚wahr‘ nennt“, schrieb Vladimir Nabokov, „beleidigt Kunst und Wahrheit zugleich.“ Doch vor Gericht finden Überlegungen wie diese wenig Gehör. Nicht zuletzt weil die Richter traditionell darauf verzichten, Gutachten von Kunst- oder Literatursachverständigen einzuholen. An Verbotsverfahren war in jüngster Zeit kein Mangel. So erlitt im Windschatten des Prozesses gegen „Esra“ der Roman „Meere“ von Alban Nikolai Herbst zunächst ein betrübliches Schicksal. Nach Bekanntwerden der ersten Urteile gegen „Esra“ glaubte eine ehemalige Freundin von Herbst sich in einer seiner Romanheldinnen wiederzuerkennen und bemühte das Berliner Landgericht. Auch sie wurde, wie die Klägerinnen gegen „Esra“, vom Autor im umstrittenen Buch nicht namentlich genannt, auch sie war keine landesweit bekannte Person, die sich als Figur für einen Schlüsselroman eignete. Doch hielt das den urteilenden Richter nicht davon ab, das Buch zu verbieten. Erst eine spätere Versöhnung zwischen Klägerin und Autor sorgte dafür, dass der Roman in überarbeiteter Form wieder erscheinen konnte. Bemerkenswert ist das Los des Kriminalromans „Das Ende des Kanzlers“ von Reinhard Liebermann. Das Buch beschreibt einen Ladenbesitzer, der die Unfähigkeit deutscher Politiker für den Niedergang seines Geschäfts verantwortlich macht und deshalb ein Attentat auf den Bundeskanzler plant. Es erschien im April 2004, Gerhard Schröder nahm Anstoß und das Hamburger Oberlandesgericht zog es aus dem Verkehr. Tatsächlich wird ein Kanzler namens Schröder im Roman erwähnt, aber nicht als Anschlagsopfer, sondern als dessen Amtsvorgänger. Geholfen hat das dem Buch nicht. Was für ein verheerendes öffentliches Signal es ist, wenn selbst der Regierungschef juristisch gegen Literatur vorgeht, liegt auf der Hand. Jüngst erst klagte ein ehemaliger SS-Offizier gegen die Autobiografie „Ein ganz gewöhnliches Leben“ von Lisl Urban, da er darin unter anderem seine Laufbahn im Zweiten Weltkrieg falsch beschrieben sah. Als sich herausstellte, dass sein Name auf der Liste der Offiziere jenes berüchtigten Polizeibataillons 101 geführt wird, dem Historiker die Ermordung von über 40000 Menschen in Polen zur Last legen, schmolz vor dem Leipziger Landgericht die Zahl der beanstandeten Passagen schnell zusammen. Ob das Buch damit gerettet ist, steht dahin. Kleine Verlage haben häufig nicht das Geld, ihren Kampf um beklagte Bücher bis vor höchste Richtertische zu tragen. Wenn Kläger auf dem Instanzenweg einen langen Atem zeigen, können sie mitunter selbst dubiose Einsprüche durchsetzen. Die zügig wachsende Bereitschaft, die Kunstfreiheit zugunsten des Persönlichkeitsschutzes einzuschränken, trifft aber nicht nur die Literatur, sondern auch das Theater. Im Oktober 2006 ging Ulrike Meinhofs Tochter Bettina Röhl gegen die Uraufführung des Stückes „Ulrike Maria Stuart“ der Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek vor und konnte Änderungen der Inszenierung durchsetzen. Besonders bizarr ist ein Fall aus der Kinobranche. 2006 untersagte das Oberlandesgericht Frankfurt die Aufführung des Filmes „Der Kannibale von Rohtenburg“, da es der Mörder Armin Meiwes nicht hinnehmen müsse, dass auf der Leinwand ein Leben und Verbrechen gezeigt werde, das seinem Leben und Verbrechen weitgehend gleiche. Reportagen über den Prozess, die – im Gegensatz zum Film – Meiwes’ Namen nannten, blieben dagegen unbeanstandet. Die besondere Freiheit der Kunst verwandelt sich hier zur besonderen Unfreiheit: Tatsachenberichte sind erlaubt, der Rückgriff auf den gleichen Stoff mit künstlerischer Absicht dagegen ist verboten. Wie seltsam sich die Fronten bei solchen Prozessen verschieben können, zeigte auch der juristische Konflikt um den Fernsehfilm „Contergan“. Die ehemaligen Gegenspieler in der Contergan-Affäre, die Pharmafirma Grünenthal und der Opferanwalt Karl Hermann Schulte-Hillen gingen beide gegen die Ausstrahlung des Zweiteilers vor, da er aus ihrer Sicht nicht in allen Punkten den historischen Tatsachen entsprach. Doch das hatte letztlich wohl nur eine Dokumentation gekonnt, nicht ein Spielfilm. Es wäre naiv anzunehmen, dass allen, die sich an solchen Fällen beteiligen, allein der Schutz hehrer Persönlichkeitsrechte am Herzen liegt. Durch die zunehmende Verrechtlichung künstlerischer Arbeit werden zugleich lukrative Geschäftsfelder für entsprechend spezialisierte Juristen erschlossen. So reisten 2006 zwei Rechtsanwälte – einer davon aus München – in das rumänische Dorf Glod, in dem der Schauspieler Sacha Baron Cohen Teile seiner Filmsatire „Borat“ gedreht hatte. Sie einigten sich mit Dorfbewohnern, die als Statisten an Dreharbeiten beteiligt waren, darauf, dass deren Persönlichkeitsrechte durch ihre Rollen im Film verletzt worden seien. Die Anwälte reichten daraufhin gegen die Produktionsfirma eine Schadenersatzforderung von 30 Millionen Dollar ein. 50000 Euro Schmerzensgeld hat das Landgericht München Mitte Februar der Ex-Geliebten des Dichters Maxim Biller zugesprochen. Woher diese rapide wachsende Klageflut? Kann es sein, dass die moderne Allgegenwart der Medien hier eine paradoxe Wirkung entfaltet? Dass wir im Umgang mit ihnen nicht gewiefter geworden sind, sondern dümmer, und es verlernt haben, zwischen nüchterner Berichterstattung und den vertrackten Maskenspielen der Künste zu unterscheiden? Dass wir selbst da um die Authentizität unseres Abbildes fürchten, wo wir gar nicht gemeint sind? Doch mit der Kunstfreiheit ist nicht nur die Freiheit der Künstler in Gefahr, sondern auch die des Publikums. Was nicht gedruckt, aufgeführt oder gezeigt werden kann, kann auch nicht gelesen oder angeschaut werden. Umso verwunderlicher, wie wenig Beachtung das Verfahren gegen „Esra“ lange Zeit fand. Erst nach dem Verbot durch den Bundesgerichtshof schlugen einige Autoren und Schriftstellerorganisationen halblaut Alarm. Dabei ist die Freiheit der Kunst keine ein für allemal errungene Selbstverständlichkeit. Sie kann Stück für Stück verloren gehen. Sie braucht, wie die zunehmende Zahl der Verfahren zeigt, energische Verteidiger. Sie braucht Fürsprecher, die sie gegen simplifizierende Betrachtung (auch durch Gerichte) in Schutz nehmen.

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