Zu Thomas Webers Studie „Hitlers erster Krieg“
Das größte Rätsel der deutschen Geschichte ist Adolf Hitler. Die Frage, wie dieser nur mäßig begabte Mann sich zum mächtigsten und mörderischsten Herrscher des Landes machen konnte, bleibt jahrzehntelangen Forschungen zum Trotz bis heute unbeantwortet. Hitler selbst behauptete, der Erste Weltkrieg habe ihn verwandelt und radikalisiert. Sein bekanntester Biograph Joachim Fest folgte dieser Spur: Die Schlachten zwischen 1914 und 1918 seien für Hitler „eine überschwänglich bejahte Erfahrung von eigentlich metaphysischem Rang“ gewesen. Ian Kershaw, der andere großen Hitler-Forscher, sah es ähnlich: „Der Krieg weckte in Hitler den Fanatiker.“ Doch obwohl dieser Zeitraum im Leben des späteren Diktators eine entscheidende Rolle spielte, gingen die Historiker meist wortkarg über sie hinweg. Die Gründe dafür sind einfach: Neben wenigen Feldpostbriefen, spärlichen Fotos und zweifelhaften Aussagen von Zeitzeugen existieren kaum verlässliche Dokumente über Hitler als Soldat. Zu der wesentlichen Entwicklungs-Phase seines Lebens gab es bislang nur wenig gesicherte Erkenntnisse. Jetzt verspricht ein neues Buch Licht ins Dunkel zu bringen und erregt umgehend internationales Aufsehen. „Hitlers erster Krieg“ heißt die Studie des deutschen, im schottischen Aberdeen lehrenden Historikers Thomas Weber. Er hat die Geschichte des Regimentes, in dem Hitler als Gefreiter diente, gründlicher als alle Wissenschaftler zuvor erforscht. Weber nutzte dafür nicht nur alle erreichbaren deutschen Militärakten, sondern auch Unterlagen britischer Einheiten, die den Deutschen auf den Schlachtfeldern gegenüberstanden. Mit sensationellen Ergebnissen. Sobald Hitler Politiker wurde, begann er seine militärische Vergangenheit systematisch zu schönen und zu verfälschen. Vom Propagandaapparat seiner Partei ließ er sich als Frontsoldat präsentieren, der in den Kriegsjahren tagtäglich Kopf und Kragen risikierte. Obwohl er Österreicher war, hatte er sich als Freiwilliger zum 16. Bayerischen Reserve-Infanterie-Regiment gemeldet. Doch an vorderster Front war er nur elf Tage. Gleich nach der ersten Schlacht von Ypern, seiner „Feuertaufe“, ließ er sich am 9. November 1914 als Meldegänger zum Stab versetzen. Da auch die NS-Propaganda diesen Schritt später nicht totschweigen konnte, umgab sie diese Funktion mit der Aura, besonders gefährlich, ja geradezu ein Himmelfahrtskommando gewesen zu sein. Nach den Recherchen Webers sah die Wahrheit gründlich anders aus. Als Meldegänger war Hitler vor allem hinter der Front eingesetzt, wo er Befehle zwischen Regimentsstab und Bataillonsstäben zu übermitteln hatte. Die schlugen ihre Quatiere wohlweislich bis zu einer Fußmarschstunde von der Hauptkampflinie entfernt auf. Kein Wunder, dass Hitler von kämpfenden Kameraden nicht als Frontsoldat betrachtet, sondern zu den „Etappenschweinen“ gerechnet wurde, wie Weber schreibt. Hitler, ein Feigling? Ein Viertel aller Soldaten aus seinem Regiment starben im Krieg. Die Überlebensquote der Meldegänger, fand Weber heraus, belief sich dagegen auf 100 Prozent. Zu den großen Vorzügen von Webers Buch gehört, dass sie nicht nur zahllose neue Erkenntnisse enthält, sondern auch anschaulich geschrieben ist. Wie er die erste Schlacht schildert, an der Hitler teilnahm, hat literarische Qualität. „Am frühen Morgen des 29. Oktober erwachten 349 Männer des List-Regiments zum letzten Mal in ihrem Leben.“ Die Truppe hatte nur zehn Wochen Ausbildung hinter sich. Vier Stunden lang musste sie durch die Nacht zum Schlachtfeld marschieren. Als der Morgen graute, lag überall Nebel. Ohne Sicht, ohne Stahlhelme und mit einem Gewehrtyp, den die Männer nie zuvor in den Händen gehabt hatten, mussten sie zur Attacke antreten. Die Verluste der Angreifer waren enorm – aber nicht so hoch, wie Hitler sie später beschrieb. Er sei der einzige Überlebende seines Zuges gewesen, behauptete er. Doch die Regimentsakten halten fest, dass an jenem 29. Oktober in Hitlers 1. Kompanie exakt 13 Soldaten fielen. Wäre Hitler tatsächlich der einzige Überlebende seines Zuges gewesen, hätten alle übrigen Truppenteile fast keine Opfer zu beklagen gehabt, was extrem unwahrscheinlich ist. Aus britischen Akten weiß Weber, weshalb den Deutschen noch höhere Verluste erspart blieben: Den kampferprobten Briten auf der Gegenseite war die Munition ausgegangen. Einige der aufregendsten Forschungsergebnisse, die Weber zu Tage gefördert hat, betreffen die Regimentskameraden Hitlers. Historiker hatten bislang vermutet, das jahrelange Kämpfen und Töten an der Front habe unter ihnen eine brutale Landsknecht-Mentalität entstehen lassen, habe eine rechtradikale und antisemitische Haltung gezüchtet, von der Hitler geprägt wurde. Nichts davon ist wahr, schreibt Weber. Die Briefe der Männer in die Heimat lassen erkennen, wie sehr sie unter den unmenschlichen Schlachten litten, ohne durch sie zu Unmenschen zu werden. Ihr Umgang mit Gefangenen war fair, Übergriffe gab es kaum. Nie lässt sich unter ihnen auffälliger Judenhass nachweisen und bei der ersten Wahl zur Nationalversammlung 1919 stimmten sie mit der Bevölkerung ihrer Rekrutierungsgebiete zu 80 bis 85 Prozent für Parteien, die vorbehaltlos für die neue Demokratie der Weimarer Republik eintraten. Umso unerklärlicher, wieso dieser eine, unauffällige Gefreite namens Hitler kurz darauf derart extremistische Ansichten entwickelte. Wenige Jahre später wurden alte Regimentskameraden von der NS-Propaganda eingespannt, wider besseres Wissen die Legende vom Fronthelden Hitler fortzuspinnen: Man hat sie mit Vergünstigungen regelrecht bestochen. Aber nicht wenige widerstanden der Versuchung: Korbinian Rutz, einer der ehemaligem Kompaniechefs, war vermutlich der Autor eines 1932 erschienenen Artikels, in dem es heißt, Hitler sei „nicht mehr als zehn Tage in der vordersten Linie“ gewesen. Als Hitler 1933 an die Macht kam, wurde Rutz im KZ interniert und erst entlassen, nachdem er eine Schweigeverpflichtung unterschrieben hatte. Zu den schier unbegreiflichen Volten der Geschichte gehört, dass es ausgerechnet ein jüdischer Offizier war, der Hitler gegen Ende des Ersten Weltkriegs das Eiserne Kreuz I. Klasse verschaffte. Auch dies ein starkes Indiz, das Hitler als Soldat keine antisemitischen Neigungen erkennen ließ, denn weshalb hätte sich ein jüdischer Vorgesetzer für einen bekennenden Judenfeind einsetzen sollen? Was bleibt, ist das Rätsel Hitler: Weshalb er sich in den Nachkriegs- und Revolutionswirren 1919 zu einem ebenso aggressiven wie erfolgreichen Agitator und fanatischen Antisemiten entwickelte, lässt sich bis heute nicht schlüssig und überzeugend erklären.
Die Rezension erschien am 14. März 2011 im „Focus“.
Thomas Weber: „Hitlers erster Krieg. Der Gefreite Hitler im Weltkrieg – Mythos und Wahrheit“ Propyläen Verlag, Berlin 2011 ISBN 978-3-549-07405-3