Luise Rinsers Lebenslügen
Lange galt sie als Widerstandskämpferin gegen die Nazis. Eine neue Biographie zeigt jetzt, dass sie als junge Frau dem Hitler-Regime bereitwillig diente. Eine würdige ältere Dame steht auf dem Friedhof des oberbayerischen Wessobrunn vor dem Grab ihres Sohnes. Neben ihr ein gut dreißig Jahre jüngerer Mann. Plötzlich glaubt der Begleiter seinen Ohren nicht trauen zu können. Etwas bricht aus der Greisin heraus, sie murmelt kaum artikulierte Worte, bittet den toten Sohn um Versöhnung und Verzeihung. Später, im Gespräch, berichtete sie, worüber sie ein Leben lang schwieg: Der Sohn, ihr zweites Kind, wurde außerehelich gezeugt. Schon früh ahnte er manches und fühlte sich von der Mutter, die ihn geraume Zeit in ein Heim gegeben hatte, schmerzhaft zurückgesetzt. Doch sie weigerte sich, mit ihm über seine Herkunft zu reden. So blieb der Namen des biologischen Vaters bis heute ein Geheimnis. Die trauernde Greisin am Grab des Sohns war Luise Rinser (1911-2002), eine der populärsten Schriftstellerin der deutschen Nachkriegsliteratur, prominente Vertreterin der katholischen Soziallehre und der Friedensbewegung, 1984 von den Grünen zur Wahl für das Amt des Bundespräsidenten vorgeschlagen. Seit ihrem Roman „Mitte des Lebens“ (1950), dessen Heldin wie eine zweite Luise Rinser wirkt und politisch Verfolgten beisteht, galt sie als weibliches role model eines alltäglichen Widerstands gegen das Hitler-Regime. Der Begleiter bei dem denkwürdigen Friedhofsbesuch in Wessobrunn Ende der neunziger Jahre war der spanische Philosoph und Rinser-Vetraute José Sánchez de Murillo. Er legt jetzt zum 100. Geburtstag der Schriftstellerin die erste umfangreiche Biographie der Schriftstellerin vor und offenbart darin mehr als nur den lebenslangen Konflikt zwischen Luise Rinser und ihrem 1994 früh verstobenen Sohn, dem Regisseur Stephan Rinser. Brisanter sind politische Fakten aus ihrem Leben. Dass sie 1934 mit 23 Jahren hymnische Verse auf Adolf Hitler veröffentlicht hatte, war bereits in den achtziger Jahren bekannt geworden. Rinser stritt ab, die Autorin des mit ihrem Namen gezeichneten Gedichts gewesen zu sein. Aber der Versuch, ihren Gegnern verbieten zu lassen, sie eine „Nazi-Poetin“ zu nennen, scheiterte vor Gericht. Sánchez de Murillo berichtet nun von weiteren biographischen Fragwürdigkeiten. Nach der Machtübernahme Hitlers beschwerte sich Rinser als Junglehrerin über die angeblich schlampige Arbeit ihres Vorgesetzten. Der Mann war Jude und war wegen ihrer Vorwürfe ernster Gefahr ausgesetzt. Im Jahr darauf übernahm Rinser die Leitung eines Ausbildungslagers für Führerinnen der weiblichen Hitler-Jugend. Sie war zu dieser Zeit, sagt Sánchez de Murillo, „eine junge Nazi-Größe, die Karriere machte.“ Tatsächlich wurde, anders als Rinser später behauptete, gegen sie im Dritten Reich nie ein Schreibverbot verhängt. Nach ihrer Scheidung 1942, als allein für zwei Kinder zu sorgen hatte, übernahm sie Drehbuch-Aufträge von Goebbels Ufa, unter anderem für einen Propagandafilm über den weiblichen Arbeitsdienst. Doch offenbar weigerte sie sich, der NSDAP beizutreten – was trotz allem für Distanz zu Hitlers Staat spricht. Schon 1937 scheint sich Rinser von der Nazi-Ideologie entfernt zu haben, nachdem sie in München die Ausstellung „Entartete Kunst“ besuchte. Sie schrieb einen Solidaritätsbrief an Emil Nolde, der zwar selbst NSDAP-Mitglied war, aber von der NS-Kulturpolitik diffamiert und schließlich mit Malverbot belegt wurde. Als Rinser Ende 1944 der Frau eines Wehrmachtsoffiziers rät, ihr Mann solle doch desertieren, der Krieg sei ohnehin verloren, wird sie wegen Wehrkraftzersetzung verhaftet und angeklagt. Doch vor Weihnachten erhält sie Hafturlaub. In den Wirren der letzten Kriegsmonate wird die Klage nicht wieder aufgenommen. Später spricht Rinser davon, sie sei vor dem Volksgerichtshof wegen Hochverrat angeklagt gewesen – auch das eine Erfindung, die Sánchez de Murillo widerlegt. Nach Kriegsende begann Luise Rinser ihre Biographie nach Kräften zu beschönigen. Sie tat, schreibt der Schriftstellerkollege und Rinser-Kenner Michael Kleeberg, „was ein Schriftsteller gemeinhin mit einem Stoff tun: Sie hat gerafft, zusammengezogen und dramatisiert.“ In ihrer Autobiographie „Den Wolf umarmen“ (1981) geht ihr kreativer Umgang mit den Fakten nach Ansicht von Sánchez de Murillo so weit, dass man das Buch eher eine „Legende“ als eine Lebensbilanz nennen müsse. Lange galt Luise Rinser als moralische Instanz der Nation. Es wäre anmaßend, wollte man der Junglehrerin Rinser aus heutiger Sicht die politische Naivität vorwerfen, mit der sie sich vorübergehend Hitlers Partei andiente. Doch die Bedenkenlosigkeit, mit der sie ihre Biographie verfälschte und Probleme – auch ihrem Sohn gegenüber – leugnete, rauben ihr im Nachhinein die Glaubwürdigkeit. Sich selbst beraubte sie um die Chance, aus Irrtümern zu lernen. Nie überwandt sie ihre kritiklose Bewunderung für machtvolle Herrschergestalten. So wie sie als junge Frau Hitler lyrisch feierte, so begeisterte sie sich noch mit über Siebzig blindgläubig für den nordkoreanischen Diktator Kim Il-sung: „Eine Vaterfigur, mit einer starken und warmen Ausstrahlung, ganz in sich ruhend, heiter, freundlich, ohne Falschheit, mit gelassenen Bewegungen und ruhigem Blick, ganz einfach, ohne jedes Imponiergehabe, witzig und humorvoll“.
José Sánchez de Murillo: „Luise Rinser. Ein Leben in Widerspruchen“ S.Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011 464 Seiten, 22,95 Euro ISBN 978-3-10-071311-7
Die Rezension erschien im „Focus“ vom 23. April 2011