Gefühlte Nähe

Harald Martenstein lässt in seinem Roman mehr als zwanzig Männer von derselben Frau erzählen

Zu niemandem ist unsere gefühlte Nähe so groß wie zu den Menschen, die wir lieben und die uns lieben. Wer also könnte genauer über uns Auskunft geben als sie? Man stelle sich vor: Eine Vollversammlung sämtlicher Liebhaber oder Liebhaberinnen, die je ein Stück Lebensweg mit uns gemeinsam gegangen sind oder mal mit uns unter einer Decke steckten – und einer nach dem anderen steht auf, erzählt von seinen Erfahrungen mit uns und versucht zu erklären, wer wir sind und wie wir sind. Ein Albtraum der Indiskretion? Sicher, kaum einem anderen Menschen gegenüber haben wir uns so schutzlos und verletzlich gezeigt wie ihnen. Aber Diskretion stand in der Literatur noch nie sonderlich hoch in Kurs. Ist dieses Szenario also ein literarischer Traum? Harald Martenstein hat es in seinem Roman „Gefühlte Nähe“ durchgespielt. Seine Heldin heißt N., sieht gut aus, ist intelligent und hat Spaß an Sex. Aber sie hat Pech mit den Männern: Der einzige, den sie je heiratete, noch sehr zu Anfang ihrer Liebeslaufbahn, hat während ihrer kurzen Ehe einer Musikerin zwei Kinder gemacht, bevor er beide Frauen sitzen ließ und unauffindbar verschwand. Davor und danach hat N. es nie länger als zwei, drei Jahre mit einem Liebhaber ausgehalten und es so auf eine stattliche Reihe von über zwanzig Ex-Freunden gebracht, die nun im Buch über die mit N. verbrachte Zeit Auskunft geben. Zu den Reizen des Romans gehört, dass es im Liebesleben heute – aber wohl nicht erst seit heute – recht kunterbunt und vielgestaltig zugehen kann. Martensteins Heldin hat da eine ganze Menge im Angebot: Einen One-Night-Stand mit einem Lehrer ein Jahr vor dem Abitur zum Beispiel oder auch mit einem über achtzigjährigen Schauspieler, dessen Autobiografie sie als Ghostwriterin schreiben soll. Als sie fürs Fernsehen zu arbeiten beginnt, kommen vor allem Affären mit Kollegen dazu, aber auch mit einem bisexuellen Fotograf oder einem Urlaubs-Gigolo. In jungen Jahren ist sie naiver, als man es ihr wünschen würde, später dann zynischer als es ihr gut tut. Mal spielen ihr die Männer übel mit, mal sie ihnen. Doch meist laufen ihr die Männer nach und trauern, wenn die Liebe wieder einmal nicht von Dauer war, noch lange um sie. Also, wer ist N.? Wie ist sie? Da alle ihre Affären scheitern, ist keiner ihrer Liebhaber sonderlich gut auf sie zu sprechen. Folglich erfahren wir nicht viel Herzwärmendes über sie. Schwierig, launisch und divenhaft wird sie genannt. Jede Form von Harmonie müsse sie zerstören, Machtproben mit dem jeweiligen Partner seien ihr Lebenselixier, Kritik könne sie nicht ertragen. Ihr Seelenleben ist offenbar so chaotisch wie die unaufgeräumten Wohnungen, in denen sie haust. Doch unterm Strich sind all diese abwertenden Urteile nicht recht glaubwürdig: Denn wäre N. tatsächlich so eine Nervensäge, wie ihre Ex-Freunde im Nachhinein behaupten – hätten sie sich dann nicht viel schneller und leichteren Herzens von ihr getrennt? Über irgendeine rätselhafte, nicht nur körperliche Anziehungskraft scheint sie zu verfügen, doch keiner versteht es, die überzeugend zu beschreiben. Nein, nüchtern betrachtet verraten die Männer in ihren Berichten mehr über sich selbst als über die Frau, die sie begehren. Im Scheitern ihrer Liebe lernen sie ihre Grenzen und damit sich selbst besser kennen, aber wenig über ihre Geliebte. Martenstein zeigt das mit beträchtlichem erzählerischem Geschick, auch wenn ein paar seiner Männer-Figuren etwas eindimensional geraten sind. Letztlich wird N. durch die Summe aller Indiskretionen nicht bloßgestellt, sondern nur noch geheimnisvoller. Kurz: Liebe ist ein schlechtes Mittel, andere kennen zu lernen, denn ihr ist zu viel Eigenliebe beigemengt. Schon deshalb macht sie blind. „Gefühlte Nähe“ ist eine schlechte Distanz, um Porträts zu zeichnen.

Die Rezension erschien in der „Welt“ vom 4. September 2010

Harald Martenstein: „Gefühlte Nähe“. Roman
Verlag C. Bertelsmann, München 2010 222 S., 19,99 Euro. ISBN 978-3-570-10006-6

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