Schriftsteller der Superlative

 Zum 100. Todestag von Leo Tolstoi: Daniel Kehlmann verrät, was er aus „Anna Karenina“ und „Krieg und Frieden“ gelernt hat

Uwe Wittstock: Tolstoi wird zu den größten Schriftstellern aller Zeiten gezählt. Was macht das Besondere seiner Bücher aus?
Daniel Kehlmann: Mit Superlativen muss man vorsichtig sein, sie machen kritische Leute zurecht misstrauisch. Aber hier ist der Superlativ angebracht. Es ist schwer zu sagen, was das Besondere seiner Bücher ausmacht. Denn zu jeder These, die man über ihn aufstellt, lässt sich eine Gegenthese formulieren, die genauso richtig ist. Elias Canetti schrieb, Tolstoi sei als Mensch vollständig gewesen: Er vereinigte in gewisser Weise alle denkbaren Eigenschaften in sich, auch die gegensätzlichsten. Das verschaffte ihm als Schriftsteller die Möglichkeit tatsächlich alles schildern zu können, was die menschliche Natur ausmacht. Er ist so der größte psychologische Realist geworden, den es bis heute gab. Zugleich experimentierte er aber auch mit immer neuen Formen: Bei ihm gibt es zum Beispiel inneren Monolog lange vor Joyce. Das Resultat ist überwältigend: Nachdem man „Krieg und Frieden“ gelesen hat, ist einem als hätte man zehn Jahre an Lebenserfahrung und Menschenkenntnis hinzugewonnen.
Wittstock: Die Figuren der Bücher Tolstois treten uns aus ihren Geschichten entgegen, wie lebendige Menschen, die wir lange schon zu kennen glauben. Wie kann ein Schriftstellen allein aus Worten auf dem Papier eine solche Wirkung erzeugen?
Kehlmann: Ja, das ist etwas Unglaubliches. Ich kenne das in diesem Ausmaß von keinem anderen Schriftsteller. Man beschäftigt sich wochenlang mit seinen Figuren, denkt über sie nach und versucht sie besser zu verstehen. Wie er das macht, ist ein Rätsel, das man wohl nie ganz durchschaut haben wird. Er ist einer der klarsten Schriftsteller, dennoch wird man mit seinen Figuren nie fertig. Die Erinnerung an sie verfolgt einen wie die Erinnerung an wichtige Begegnung mit realen Menschen.
Wittstock: Aber beruht diese psychologische Einfühlungskraft Tolstois nicht letztlich auf einer literarischen Illusion? In seiner Erzählung „Leinwandmesser“ beschreibt Tolstoi die Welt aus der Sicht eines Pferdes. Eine wunderbare Erzählung: Aber sie hat damit, wie ein Pferd die Welt erlebt, wohl nichts zu tun.
Kehlmann: Da bin ich nicht sicher. Vermutlich wird man nie wirklich wissen, wie ein Pferd denkt und fühlt. Aber wenn es je gelingen sollte, dann wird das Ergebnis vielleicht gar nicht so unähnlich zu dem sein, was Tolstoi uns in seiner Erzählung vorführt. Auch diese Geschichte ist beides zugleich: Ein gewagtes Experiment und ein Wunder an Einfühlungskraft.
Wittstock: Ist Tolstoi für Sie als Schriftsteller ein Vorbild?
Kehlmann: Ich würde mir nicht anmaßen zu behaupten, ich hätte jemals etwas geschrieben, dass Tolstoi als Vorbild gerecht wird. Aber man kann als Schriftsteller ungeheuer viel von ihm lernen. Vor allem Handwerkliches: Wie man möglichst knapp erzählt und Unwesentliches fortlässt. Wie man Metaphern einsetzt, ohne dass sie für den Leser aufdringlich werden. Wie man eine Szene aufbaut und jede Figur so sprechen lässt, wie es ihrem Charakter und ihrer sozialen Stellung entspricht. Viel wichtiger aber: Tolstoi erinnert einen daran, wie existentiell Literatur sein kann. Man bekommt noch in der kleinsten Erzählung Tolstois ein Gefühl für die Weite der Welt und den Reichtum der menschlichen Psyche. Man wird so unmittelbar in Berührung gesetzt mit existentiellen Grundtatsachen, mit dem Tod, mit der Unbeherrschbarkeit der Liebe, mit der Frage nach dem richtigen und falschen Leben, dass einem plötzlich der Großteil aller anderen Literatur – inklusive natürlich der eigenen – furchtbar unnotwendig vorkommt.
Wittstock: Hemingway sagte einmal, er habe Tolstoi gelesen, weil er ihn verehrte, aber auch, weil er wissen wollte, wen es für ihn zu „schlagen“, zu übertreffen galt. Ist das ein Ziel für einen Schriftsteller: Tolstoi übertreffen zu wollen?
Kehlmann: Es ist schon ein vermessenes Ziel, Tolstois Maßstäben gerecht zu werden. Selbst das wird man nie schaffen. Ich bewundere Hemingway, aber er hat Tolstoi nie in irgend etwas geschlagen.
Wittstock: Viele Klassiker der Moderne schreiben einen hochartifiziellen Stil. Der virtuosen Sprache wird in der modernen Literatur größte Bedeutung zugemessen. Tolstoi schreib dagegen eine ganz einfache, schlichte Sprache und erzielt dennoch atemberaubende Wirkung. War die Sprachfixiertheit der literarischen Moderne ein Irrweg?
Kehlmann: Das denke ich nicht. Nicht jede Literatur muss so sein wie die Tolstois. Das Schöne ist ja, dass die Literaturgeschichte immer wieder große Antipoden hervorbringt. Neben Tolstoi lebte eben auch Dostojewski, der viel irrationalere Vorstellungen verfolgte, viel ekstatischer schrieb, sich viel weniger um Perfektion und Ausgewogenheit scherte. Ähnlich die Klassiker der Moderne. Sie schrieben anders als Tolstoi, aber man kann sie nicht gegen ihn aufrechnen. Nebenbei: In Tolstois direkter, klarer Sprache steckt eine enorme Kunstleistung. Sein Stil kommt einem einfach vor, weil er bis in die feinsten Nuancen durchkomponiert ist. Tolstoi war ein sehr bewusster Stilist, „Anna Karenina“ ist eine der wenigen Romane der Weltliteratur, die einem fast ohne eine einzige stilistische Schwäche entgegentreten. Richtig ist: Er wollte von jedem verstanden werden und er hat so intensiv an jedem Satz gearbeitet, dass er dieses Ziel erreichte.
Wittstock: „Anna Karenina“ ist einer der schönsten Gesellschaftsromane aller Epochen. Lange hieß es, heute könnten keine Gesellschaftsromane mehr geschrieben werden, unsere Gesellschaft sei zu kompliziert und abstrakt für den Roman. Stimmt das? Kehlmann: Nein, das hat nie gestimmt. Tatsächlich gibt es aber wenige deutsche Gesellschaftsromane von hohem Rang. Das liegt auch daran, dass die deutsche Literatur, wie der Germanist Heinz Schlaffer einmal schrieb, nie sehr daran interessiert war, gesellschaftliche Realität einzufangen. Aus der protestantischen deutschen Tradition heraus richtete sich die Leidenschaft der deutschen Schriftsteller vor allem darauf, die Innenansicht, das Seelenleben einer einzelnen zentralen Haupfigur zu erforschen. Aber auch hier gilt wieder: Tolstoi macht beides zugleich. Er schildert uns die Gesellschaft um Anna Karenina, aber die Kapitel über ihren Antipoden Lewin sind voll von Intraspektion, moralischer Selbstbefragung und minutiöser Seelenerforschung.
Wittstock: Er war eben auch in diesem Punkt der „vollständige“ Schriftsteller.
Kehlmann: Ja, er vereinigte Eigenschaften, die sonst ganz unvereinbar sind. Er war ein Rationalist und ein religiöser Fanatiker. Er war ein großer Literat, der später die Literatur ablehnte. Er war ein Asket und zugleich eine barocke Natur mit ungeheuren Ausbrüchen von Leidenschaft. Er war ein Idealist und ein brutaler Egomane. Canetti schrieb, dass Tolstoi einen regelrecht entzwei reißt, weil jeder in ihm Dinge, die man bejaht, mit Dingen, die man radikal ablehnt, vereinigt findet. Die einzige Sache, die man sofort versteht, ist, warum Tolstoi unter diesen Voraussetzungen kein glücklicher Mensch sein konnte.
Wittstock: Wohl kein anderer Schriftsteller hat das Bild der Leser von Russland so geprägt wie Tolstoi. Millionen Menschen leben in der Vorstellung, durch ihn zu wissen, wie Russland war und vielleicht immer noch ist. Liegt in dieser ungeheuren Macht eines Schriftstellers nicht auch eine ungeheure Verantwortung?
Kehlmann: Ja, auf jeden Fall. Tolstoi war in seiner Zeit mehr als ein Romancier. Er hat seine Epoche geistig geprägt, wie vor ihm wohl nur Voltaire und nach ihm kein anderer Künstler mehr. Es gibt eine schöne Anekdote, die Erika Mann berichtet. Als 1914 die Nachricht vom Ausbruch des Krieges kam, sagte ihr Vater Thomas Mann: Wenn er noch leben würde – und es war klar, dass er damit Tolstoi meinte – wäre das nicht geschehen, „es hätte nicht gewagt zu geschehen“.
Wittstock: Zu der übergroßen Spannweite des Menschen Tolstoi gehört, dass nicht nur einer der großartigsten Schriftsteller war, sondern auch einer der anmaßendsten. Schon in seiner Jugend wollte Tolstoi so etwas wie ein Religionsstifter sein. Im Alter hat er Jünger um sich versammelt, die nach seinen 5 Geboten lebten und eine Art Sekte bildeten. Hatte Tolstoi jede Selbstkritik verloren und mit diesem missionarischen Eifer einen Teil seines Spätwerkes aus heutiger Sicht unlesbar gemacht?
Kehlmann: Unlesbar auf keinen Fall. Er hat seine Vorstellungen von Religion und moralischem Leben mit echtem Fanatismus betrieben und aus dieser Zeit stammen auch seine Verdammungsurteile gegen die Literatur. Aber sein später Roman „Auferstehung“ ist unglaublich gut. Er hat vielleicht nicht die gleiche Klasse wie „Krieg und Frieden“ und „Anna Karenina“, aber welche Romane können denen schon das Wasser reichen. Das Buch hat grandiose satirische Passagen. Es gibt die Beschreibung einer orthodoxen Messfeier, die von solcher satirischen Schärfe ist, dass ihn die Kirche dafür exkommunizierte – völlig zurecht, denn wer das aufmerksam gelesen hat, kann kaum je wieder eine religiöse Kulthandlung ernst nehmen. Oder denken Sie an „Hadschi Murat“ eine Erzählung aus Tschetschenien, die plötzlich wieder so frei, offen und ohne jeden religiöse Besessenheit ist, wie seine besten frühen Geschichten. Auch das zeigt wieder die „Vollständigkeit“ dieses Künstlers: Selbst als er wie ein Ayatollah auftrat, konnte ihn noch sein literarisches Talent überwältigen.

Das Gespräch erschien im Nachrichtenmagazin „Focus“ am 15. November 2010

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