Paul Auster schreibt Romane, die in Atem halten
Paul Austers größte Leidenschaft ist der Misserfolg. Der soziale Abstieg hat es ihm angetan. Auf Verluste ist er wie versessen und seine Spezialität sind schleichende Zusammenbrüche. In den sechs Jahren von 1985 bis 1990 hat Auster sechs Romane publiziert, und in jedem erleben die Hauptfiguren ihren totalen Ruin. Sie verlieren alles: Arbeit und Geld, Bindungen und Besitz, Freunde und Familie. Schließlich stehen sie da, mit leeren Händen, von aller Welt verlassen, „mitten im Nirgendwo“ – wie ihre Bilanz in jedem Buch fast wortgleich lautet. Der alttestamentarische Urahn dieser Pechvögel heißt Hiob, doch während dem auch im größtem Unglück noch sein Glaube und sein Gott blieb, stürzen seine amerikanischen Nachfolger ins Nichts. Natürlich kann man nicht behaupten, dass sie sich dabei gut amüsieren, aber ihr rasanter Niedergang vollzieht sich immer mit ihrer Zustimmung und zu ihrer Zufriedenheit. Denn nur auf diese Weise gelingt es ihnen, tatsächlich sie selbst und also frei zu sein. Die Beharrlichkeit, mit der Auster dieses Thema verfolgt, lässt auf eine persönliche Besessenheit schließen, die bedeutende literarische Früchte tragen kann. In seinem Fall hat sie das bis heute allerdings noch nicht getan. Auch mit seinem neuen Roman „Die Musik des Zufalls“ bleibt Auster dem beschriebenen Handlungsmuster treu. Jim Nashe arbeitet als Feuerwehrmann in Boston und zählt zur Zeit nicht zu den Glückskindern: Seine Mutter ist gestorben, seine Frau spurlos verschwunden und seine zweijährige Tochter zur Pflege bei Verwandten im fernen Minnesota. Als er dann noch vom Tod seines Vaters erfährt, berührt ihn das vergleichsweise wenig, denn der hat zuvor jahrzehntelang nichts von sich hören lassen. Wichtiger ist für Nashe, durch das Ableben seines ansonsten wenig fürsorglichen Erzeugers zweihunderttausend Dollar geerbt zu haben. Zu den festen Gesetzen von Austers literarischer Welt gehört, dass sein Held dieses kleine Vermögen nicht dazu benutzt, sein aus den Fugen geratenes Leben wieder in bürgerliche Bahnen zu lenken. Im Gegenteil: Nashe setzt das Kapital ein, um alles, was ihm bislang noch Halt und Zuflucht gab, gründlich zu beseitigen. Er kündigt seinen Job, verschleudert das wenige, das er noch sein eigen nennt, setzt sich in einen frisch gekauften Saab und verbringt das nächste Jahr auf den endlosen Autobahnen Amerikas. Auster ist klug genug, diesen Entschluss, alle Brücken hinter sich abzubrechen, als einen höchst zweischneidigen, ambivalenten Akt darzustellen. Nashe betreibt mit diesem Schritt sowohl seine Selbstbefreiung als auch seine Selbstvernichtung: „In den nächsten fünf Tagen regelte er seine Angelegenheiten, rief den Vermieter an und sagte ihm, er könne sich einen neuen Mieter suchen, schenkte seine Möbel der Heilsarmee, meldete Gas, Strom und Telefon ab. All das geschah mit einer Unbekümmertheit und Brutalität, die ihm tiefe Befriedigung verschaffte, doch nichts davon reichte an das Vergnügen heran, einfach Dinge wegzuwerfen … Er behandelte seine Vergangenheit wie einen Haufen fortzuschaffenden Müll … Er kam sich vor wie einer, der endlich den Mut gefunden hat, sich eine Kugel in den Kopf zu jagen – nur dass in diesem Fall die Kugel nicht den Tod bedeutete, sondern das Leben; die Explosion, die die Geburt neuer Welten einleitete.“ Mit diesem rabiaten Ausstieg hat Nashe seine Existenz zum Spielball des Zufalls gemacht und der schlägt, das kann bei Auster wohl nicht anders sein, zu mit vernichtender Wucht. Kurz bevor Nashe seine letzten Dollars durchbringt, trifft er auf einen jungen, nicht eben erfolgsverwöhnten Poker-Profi namens Jack Pozzi – und damit gerät das Buch auf die schiefe Bahn. Gemeinsam beschließen sie, die verbliebenen Geldreserven bei einer nächtlichen Partie gegen zwei Millionäre zu riskieren. Am nächsten Morgen sind sie nicht nur pleite, sondern haben einen Berg von Spielschulden am Hals, den sie durch wochenlange Sklavendienste in einem reichlich merkwürdigen privaten Arbeitslager wieder abtragen. Aber das ändert nichts daran, dass Nashes Schicksal besiegelt ist. Sein Ende ist ebenso abrupt und willkürlich, wie es zuvor alle seine wichtigen Entscheidungen waren: Er stolpert mit einem Mal blindlings aus seinem Leben und damit auch aus dem Roman – zurück bleibt der Leser, der sich fragt, was das alles soll. Zugegeben, Auster versteht es, sein Publikum zu unterhalten, oder genauer: es in Atem zu halten. Bei ihm ist immer etwas los. Kaum hat er eine Geschichte begonnen und richtig in Schwung gebracht, zieht er die Notbremse, ändert die Richtung und treibt seine Figuren in neue, ganz andere Abenteuer hinein. Ob durch diesen erzählerischen Wankelmut die Glaubwürdigkeit oder die psychologische Plausibilität seiner Bücher zum Teufel geht, kümmert ihr offenbar herzlich wenig. Hauptsache: Action. So wird bei ihm in „Mond über Manhattan“ aus einer Aussteigerstory eine Romanze, die sich dann zu einer biographischen Recherche wandelt, um schließlich in einen Vater-Sohn-Konflikt zu münden. In „Die Musik des Zufalls“ verfährt er ähnlich: Das Buch beginnt als Abrechnung mit einem verfehlten Leben, geht über in eine wacker erzählte Kriminalgeschichte, bevor es in einer symbolbeladenen Parabel auf die Absurdität des Daseins und die Vergeblichkeit allen Tuns endet. Überdies liebt es Auster, seine Romane in der Nähe populärer Kino-Genres anzusiedeln: Er bedient sich munter bei den Motiven des Psycho-Thrillers, benutzt die leicht angestaubten Kulissen der Katastrophen-Filme oder plündert die Mythen des Westerns. In „Die Musik des Zufalls“ stößt man auf Anleihen beim Road-Movie und bei den typisch amerikanischen Straflager-Geschichten samt Ausbruchsversuch und prügelnden Aufsehern. Jeder halbwegs kinoerfahrene Zeitgenosse findet sich also in Austers Büchern sofort zurecht – was ihnen zunächst einmal einen Sympathievorschuss einträgt. Doch derlei medienübergreifende Zitate machen noch keinen Romancier. Die literarischen Versatzstücke und die Fertigteile aus der Filmgeschichte, die Auster so fingerfertig zusammenheftet, wollen nicht so recht zueinander passen. Unentwegt hantieren die Figuren bedeutungsvoll mit Requisiten, die dann für die Geschichte funktionslos bleiben. Immer wieder begegnet man in seinen Büchern blinden Motiven oder auch Handlungssträngen, die der Autor zunächst mit viel Aufwand verfolgt, bevor sie sang- und klanglos in der Versenkung verschwinden. Erstaunlich ist zudem die Leichtfertigkeit, mit der sich Auster gelegentlich Klischees anvertraut, wie sie einfältiger und platter kaum zu denken sind. Man ist so frappiert, dass man fast vergisst, sich über den Autor zu ärgern: Seine beiden Millionäre zum Beispiel sind unkultiviert wie William Hearst, verschroben wie Howard Hughes und lassen sich, als richtige Amerikaner, in ihrem luxeriösen Speisezimmer Hamburger mit Cola servieren. Pozzi, der Berufsspieler, ähnelt seinen Kollegen aus den Serien-Western oder -Krimis wie ein Ei dem anderen: ein schmächtiger Schwätzer, der allen Frauen an die Wäsche geht und sich bei der Arbeit hinter dem sprichwörtlichen Pokerface verschanzt. Eine Prostituierte, mit der sich Pozzi vergnügt, ist ein wenig dumm, aber hat natürlich ein goldenes Herz und verliebt sich sofort in ihren Freier. All das ist nicht zuletzt deshalb so störend und irritierend, weil man an einigen Passagen sehr genau merkt, wie gut Auster schreiben kann, wenn er seine Eitelkeit und sein Imponiergehabe vergisst. In den wenigen Momenten, in denen er seine Leser nicht durch schicke Anspielungen zu beeindrucken, durch Gedankensprünge zu verblüffen oder durch herbeigezwungene Rätsel einzuschüchtern versucht, in diesen wenigen Momenten erweist er sich als ein talentierter Erzähler, dem man durchaus die Kraft zutraut, einen großen Roman über die bemerkenswerte Sehnsucht seiner Helden zu schreiben: Über den Wunsch die Vergangenheit los zu werden, jedes Eigentum abzuschütteln, alle Kontakte rücksichtslos zu kappen, damit sie endlich frei und ungehindert sie selbst sein können – auch wenn sie dafür mit ihrem Untergang bezahlen müssen. Vorläufig beschränkt sich Paul Auster darauf, aus Leibeskräften jedem halbseidenen Effekt und allen intellektuellen Moden hinterherzuhecheln. Sollte er daran irgendwann einmal die Lust verlieren, könnte man Lust bekommen, seine Bücher zu lesen.
Paul Auster: „Die Musik des Zufalles“. Roman
Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1992 254 Seiten, 38,00 Mark