Ein literarischer Extremist

Erst Jesuit, dann Faschist und Kommunist, schließlich Pluralist – die vier Lebenswege des Franz Fühmann

Ein Schicksal, zerrissen wie unser Jahrhundert: Franz Fühmann führte vier Leben, vier grundverschiedene, diametral entgegengesetzte Existenzen. Dennoch blieb er sich stets im tiefsten Sinne treu. Er schien unverwüstlich, seine Energie und Willenskraft unerschöpflich. Heute, zehn Jahre nach seinem viel zu frühen Tod, wird deutlich, was die Literatur an Franz Fühmann verloren, was sie an ihm gewonnen hat: den bedeutendsten Schriftsteller der DDR. Er war ein literarischer Extremist. Wo andere zurückschreckten, begann für ihn erst der Wert und die Würde seiner Arbeit. Hartnäckig und ohne sich selbst zu schonen, wühlte er in den Wunden der deutschen Geschichte und in denen seines totalitären Staates. Er war stets auf das Äußerste aus, auf die ganze, ungeteilte Wahrheit – was ihm harte Kämpfe und auch schmerzhafte Niederlagen eintrug. Doch hat er deshalb in seiner Arbeit niemals Kompromisse oder auch nur diplomatische Zugeständnisse gemacht. Im Westen Deutschlands ist Fühmann noch immer wenig bekannt. Einige seiner Erzählungen fanden zwar schon vor Jahrzehnten Eingang in die Lesebücher der alten Bundesrepublik. Auch wurde er hierzulande von Kritikern gefeiert und mit großen Literaturpreisen geehrt. Dennoch stand er stets im Schatten anderer DDR-Autoren, deren Bücher besser in das vom Kalten Krieg bestimmte Klima der Zeit paßten. Jetzt aber, da die politischen Gefahren jedweder fundamentalistischen, totalitären oder auch nationalistischen Strömung offenliegen, jetzt erst tritt der intellektuelle Rang Fühmanns deutlich hervor. Seine Briefe aus den Jahren 1950 bis 1984, die jetzt erschienen sind, spiegeln nicht nur fünfunddreißig der vierzig Jahre DDR-Literaturgeschichte wider. Sie lassen zugleich noch einmal miterleben, wie aus dem besessenen Ideologen Fühmann ein souveräner, pluralistisch denkender Mensch und Schriftsteller wurde. Ein ergreifendes, mitreißendes geistiges Schauspiel. Fühmann war von klein auf zum Fanatismus erzogen worden. Seine bigotte Mutter, die im Alter einem religiösen Wahn verfiel, unterwarf den Sohn strengster katholischer Zucht. Schon als Zehnjährigen schickten ihn seine Eltern in ein Jesuiteninternat bei Wien, wo die Kinder mit rabiaten Mitteln zur künftigen Kirchenelite geformt werden sollten. Doch der Drill zeitigte beim Zögling Franz andere als die erwünschten Folgen: Nach vier Jahren kehrte er der Schule als konsequenter Atheist den Rücken. Unter dem Einfluß seines nationalsozialistisch gesinnten Vaters entschied er sich daraufhin für ein ganz anderes Leben: Er wurde Mitglied einer nationalsozialistischen Jugendorganisation und besuchte das Gymnasium „in Stiefeln und Braunhemd“. Noch vor Kriegsbeginn trat er der Reiter-SA bei und blieb bis zur Kapitulation Deutschlands 1945 ein treuergebener Soldat Hitlers, der fest an die Überlegenheit der germanischen Rasse und an den Endsieg glaubte. Diese Phase seines Lebens hat Fühmann nachträglich oft dramatisch überhöht. Obwohl er lediglich als Funker am Krieg teilnahm und nie einen Schuß in einem Gefecht abfeuerte, urteilte er unerbittlich über sich selbst: „Meine Schulzeit insgesamt ist eine gute Erziehung zu Auschwitz gewesen.“ Er fragte sich wieder und wieder, ob er als KZ-Wachmann ebenso widerspruchslos seinen Befehlshabern gefolgt wäre, wie er es als einfacher Soldat getan hatte. Strenger als er ist kein anderer deutscher Schriftsteller der Nachkriegszeit mit sich selbst ins Gericht gegangen. In der sowjetischen Kriegsgefangenschaft begann dann Fühmanns dritter Lebensweg: Er wurde auf eine der berüchtigten Antifa-Schulen geschickt, wo man ihn zu einem begeisterten Anhänger Stalins umerzog. Der Druck auf die Schüler war so enorm, daß, wie Fühmann später berichtete, manche in den Selbstmord flüchteten. Doch Fühmann nahm, getrieben von Schuldgefühlen wegen der deutschen Kriegsverbrechen, den neuen, den kommunistischen Glauben von ganzem Herzen an. Er wollte am Aufbau einer besseren und gerechteren Welt mitarbeiten. Dies war für ihn keine leere Phrase, sondern ein Vorhaben, dem er sich mit Haut und Haar verschrieb. Als Stalinist kehrte er Weihnachten 1949 nach Deutschland, in die DDR, nach Ostberlin zurück, wo er sich in den fünfziger Jahren zu den strikt linientreuen Schriftstellern des Landes zählte. Er veröffentlichte nur das, was seiner Partei genehm war und unterwarf sich bereitwillig ihren kulturpolitischen Vorgaben. Aber die Kluft zwischen den Idealen und der Wirklichkeit seines neuen Staates blieb ihm nicht lange verborgen. Anfangs versuchte Fühmann noch, die schönen Worte der Propaganda für sich notdürftig mit den tristen Tatsachen des Alltags in Einklang zu bringen. Doch traten ihm die Lebenslügen der DDR schon bald so deutlich vor Augen, daß seine sozialistischen Überzeugungen zu wanken begannen. Jahrelang betäubte er seine Zweifel mit Alkohol. Wie alles in seinem Leben tat er auch dies radikal und gründlich: Die Ärzte gaben ihm nur noch wenige Monate, als er im August 1968 von der Okkupation der Tschechoslowakei durch die Truppen des Warschauer Pakts erfuhr. Die Nachricht vom brutalen Ende des Prager Frühlings empörte ihn zutiefst und gab ihm Kraft, mit dem Regime seines Staates und zugleich mit dem Alkohol zu brechen. Die Briefe lassen erkennen, wie rasch er sich daraufhin zu einem unnachsichtigen Kritiker der DDR wandelte. Fühmann beschränkte sich zunächst auf das Feld, auf dem er sich am besten auskannte, besser als jeder Funktionär: das Feld der Literatur. Er polemisierte vehement gegen die Anmaßung der offiziellen Kulturpolitik, forderte Toleranz gegenüber allen Spielarten der Dichtung und setzte sich beharrlich für junge, in politische Bedrängnis geratene Autoren ein. Viele von denen, die er damals unter seinen Schutz stellte, zählen heute zu den besten Poeten des Landes: so Sarah Kirsch, Wolfgang Hilbig, Frank-Wolf Matthies oder Uwe Kolbe. Verblüffend, was für einen herausfordernden und entschiedenen Ton er gegenüber den Machthabern anschlug. In einem offenen Brief an Klaus Höpcke, den stellvertretenden Kulturminister und obersten Zensor des Staates, übte er 1977 Radikalkritik an der Partei: „Weder ein einzelner, noch ein Berufsstand, noch irgendeine soziale Organisation oder politische Gruppierung ist im alleinigen Besitz der Wahrheit.“ Dem Minister dürfte der Atem gestockt haben. Fühmann machte sich über seinen politischen Einfluß keine Illusionen. Er wußte, mit welchem Zynismus die Funktionäre alle unliebsamen Kommentare der Schriftsteller beiseite schoben. Aber er wollte – selbst auf das Risiko hin, sich lächerlich zu machen – nicht die geringste Chance zur öffentlichen Kritik ungenutzt verstreichen lassen. Heute beweisen seine Worte: In dieser deutschen Diktatur hatte der einzelne weit größere Möglichkeiten zur Verweigerung oder zum Widerspruch, als es die Mitläufer des Regimes jetzt glauben machen wollen. Fühmann gehörte nicht zu den Schriftstellern, die Politisches und Poetisches säuberlich voneinander trennen können. Ihm geriet jedes Buch, jeder Text, jeder Brief in irgendeiner Weise zum Bekenntnis. Nachdem er die ideologischen Denkschemata hinter sich gelassen hatte, plädierte er ohne jede Rücksicht für vorbehaltlose Meinungsvielfalt in der DDR. So erkannte er schon Ende der siebziger Jahre, was die Strategen der SED nicht sehen wollten: Die Idee eines uniformen, straff organisierten sozialistischen Staates war längst überlebt und würde schon bald der zunehmenden Ablehnung durch die Bevölkerung nicht mehr standhalten können. Mit diesen Ansichten stellte er sich im offiziellen Kulturleben seines Landes endgültig – und wohl auch bewußt – ins Abseits. Er näherte sich den französischen oder amerikanischen Philosophen und Sozialtheoretikern, die in den folgenden Jahren die postmoderne Vielfalt der westlichen Welt erforschten und beschrieben. Doch den letzten Schritt, den Schritt in den Westen, mochte Fühmann nicht mehr vollziehen. Die vergangenen Kämpfe hatten ihn erschöpft, und es fehlte ihm die Kraft, seinen vier Existenzen eine weitere, eine fünfte hinzuzufügen. „Ich kann so nicht mehr leben“, bekannte er, kurz bevor er von seiner tödlichen Krankheit erfuhr, „finde keine andre Möglichkeit, stehe vor Konsequenzen, die irgendwie das Ende bedeuten, muß sie ziehen, kann sie nicht ziehen – (bin) also halt ein verbrauchter, abgewirtschafteter alter Mann, und da ist´s immer am besten: Grube graben, alten Mann reinschmeißen, Grube zuschippen, gell?“ Ein Jahr später erfüllte sich diese Forderung. Er starb im Juli 1984 in der Ostberliner Charité. Noch in seinem literarischen Testament aber werden sein lebenslanger Kampf um Aufrichtigkeit und sein Zorn auf Opportunismus und Verlogenheit spürbar: Den Vorzeige-Schriftstellern Gerhard Henninger, Dieter Noll und Hermann Kant untersagte er ausdrücklich, an seiner Beerdigung teilzunehmen. „Ich habe grausame Schmerzen. Der bitterste ist der, gescheitert zu sein: in der Literatur und in der Hoffnung auf eine Gesellschaft, wie wir sie alle einmal erträumten.“

Das Porträt erschien in Nachrichtenmagazin „Focus“ vom 9. Mai 1994

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