„Die Namen“. Ein Besuch bei Don DeLillo

Sein Roman „Die Namen“, fängt an wie eine gewöhnliche Scheidungsgeschichte. Eine Ehefrau hat ihren Mann beim Seitensprung mit ihrer besten Freundin erwischt. Sie fängt daraufhin mit dem gemeinsamen Sohn auf einer griechischen Insel ein neues, einfaches Leben an. Um den beiden nahe zu bleiben, nimmt der reuige Mann einen Job in Athen an als Mitarbeiter einer Versicherung. Zugegeben, ein sensationeller Auftakt ist das nicht. Doch am Ende der Geschichte hat sich der Held in eine böse Geheimdienstgeschichte verstrickt, ist ein Freund statt seiner von griechischen Nationalisten niedergeschossen worden, und er sieht sich konfrontiert mit einer bizarren Sekte, die im ganzen Nahen Osten Ritualmorde begeht – aus sprachphilosophischen Gründen. „Die Namen“ ist ein doppelbödiger Roman, ein Roman über die Flucht aus der westlichen Warenwelt und über die Sehnsucht nach ihr; über perfekte Manager, die unfähig sind, ihr Privatleben zu managen; über Terroristen, die Frieden herbeibomben wollen; über ungläubige Humanisten und gläubige Killer; und nicht zuletzt über die Sprache selbst, die der Verständigung dient, aber immer schon unverständlichen Regeln folgte. „Die Namen“ war, erzählte Don DeLillo als ich ihn 1994 in einem kleinen Restaurant in Manhattan traf, wohl das entscheidende Buch seiner Karriere. Er hat es vor gut zehn Jahren in Griechenland geschrieben. Damals konnte er den american way of live nicht mehr ertragen, jenen endlosen Taumel des fröhlichen Konsums, der Moden und des Entertainments. Seine Abwendung war pathetisch, eine große Geste: Er wollte zurück zu den Wurzeln der westlichen Kultur und mietete sich deshalb ein Zimmer unweit der Akropolis. Doch der Roman, der dort entstand, liest sich wie beides – wie ein Loblied auf die Vernunft des Abendlandes und zugleich wie eine fundamentale Kritik an ihr. Der Leser muß sich seine Meinung selbst bilden, DeLillo bevormundet ihn nicht: ein erzählerisches Kabinettstück, mit dem er in Amerika in die erste Garde der Literatur aufgerückt ist. Im Gespräch wirkt DeLillo wie seine Bücher. Auf den ersten Blick unscheinbar, sanft, seine schmalen Hände gestikulieren kaum, seine Stimme bleibt zurückhaltend. Doch nachdem ich mich auf den Dialog mit ihm erst einmal eingelassen hatte, wurden seine Worte immer suggestiver. Er ist weitsichtig, seine Brille vergrößert die Augen ins Riesenhafte, der Blick bekommt etwas Bohrendes. Auch dann noch meidet er ausladende Gebärden, spricht ruhig, gelassen – und hat doch die Aufmerksamkeit seines Zuhörers fest im Griff mit einer geradezu einschüchternder Kraft und Sicherheit. Natürlich ist er ein Besessener, ein Wahrheitssucher, der – unserer chaotischen, desintegrierten Gegenwart zum Trotz – herauszufinden versucht, was die Welt im Innersten zusammenhält. Doch diese Energie, die man im Umgang mit ihm rasch zu spüren bekommt, ist gepaart mit einer wohltuenden Ironie. Das schon allein bewahrt ihn vor jedem Fanatismus. Er ist ernst bei der Sache, ohne sich selbst zu ernst zu nehmen. Er gehört zu den intelligentesten und stilsichersten Autoren Amerikas, aber sein literarisches Bekenntnis bleibt einfach und demonstrativ leserfreundlich: „Ich möchte Vergnügen bereiten durch Sprache, durch die Architektur eines Buches oder eines Satzes und durch Figuren, die komisch sind, ordinär, gewalttätig oder alles das zusammen.“ Am besten ist ihm das wohl in „Weißes Rauschen“ gelungen, in jenem Roman, für den er den begehrten National Book Award erhielt. Er schrieb den Roman, als er nach über drei Jahren aus Griechenland zurückkehrte. Seine amerikanische Heimat war ihm fremd geworden, und er begann, sie zu erforschen wie ein Ethnologe eine exotische Zivilisation. Selten ist so klug, so witzig und auch so giftig über die Amerikaner und ihren Alltag geschrieben worden: über ihre Vorliebe für Fast Food und Psychiater, für schnelle Scheidungen und wohltemperierte Supermärkte, für liveübertragene Katastrophen aus aller Welt und schnellwirkende Pillen gegen Katastrophen im eigenen Leben. Das Unheimlichste in diesem Buch sind die Kinder. Es beginnt wie ein heiterer Familienroman: ein umsichtiger Vater, eine zupackende Mutter, dazu mehrere Sprößlinge die gemeinsam die Wechselfälle ihres Vorstadt-Daseins meistern. Aber dann bricht ein veritables Verhängnis über die Figuren herein, das laue Leben erfährt einen abrupten Klimasturz, und plötzlich erweisen sich die Kinder als abgebrühte Realisten, die ihren Eltern noch die letzten Illusionen rauben. Gnadenlos reißen sie die Fassade ein, mit der sich ihre Erzeuger um böse Wahrheiten, um Angst und Tod herumzudrücken versuchen. Das Familienidyll endet so in einem lustvoll verübten Mord. Wie gesagt, DeLillos Bücher sind keine angenehme Lektüre. Aber eine wirkungsvolle. Wer „Weißes Rauschen“ gelesen hat, betrachtet danach manches mit anderen Augen: einen Supermarkt oder einen Katastrophenbericht im Fernsehen – und vielleicht sogar die eigenen Kinder. DeLillos halbdokumentarischer Roman „Sieben Sekunden“ (über das Attentat auf John F. Kennedy) gehört zu seinen größten Erfolg. Er ist spannend wie ein Politthriller und stand lange auf allen amerikanischen Bestsellerlisten. Zugleich aber belegt das Buch eine denkbar beunruhigende Erkenntnis: daß selbst eine gigantische Aufklärungsarbeit, daß selbst das Bekanntwerden sämtlicher Tatsachen, die mit diesem Mord zusammenhängen, nicht die Wahrheit ans Licht gebracht hat. Kennedy wurde vor laufenden Kameras und hunderten von Zeugen umgebracht, wahre Heerscharen von Polizisten und Reportern haben alle nur denkbaren Fakten überprüft – und doch weiß man bis heute nur eines mit Sicherheit: Lee Harvey Oswald war nicht der einzige Täter. Beginnt an den Grenzen der Aufklärung zwangsläufig der Mythos – zumindest die Neigung zum Mystifizieren? Auf jeden Fall erzählte mir DeLillo, er habe sich vor der endlosen, jahrelangen Arbeit an „Sieben Sekunden“ ein Foto von Oswald ins Bücherregal über seinem Schreibtisch gestellt. Mit diesem Bild vor Augen schrieb er Monat um Monat auf den letzten Satz des Romans zu, den er genau im Kopf hatte. Als es schließlich soweit war, als er endlich diesen letzten Satz in die Maschine tippen wollte, bewegte sich das Foto – das zuvor so lange unverrückbar gegen die Bücher gelehnt hatte – und schwebte sanft vom Regalbrett. Der Satz handelte von der merkwürdigen Ausstrahlungskraft, die bis heute von Lee Harvey Oswalds Namen ausgeht. DeLillo erzählte das unterkühlt. Er ist nicht der Typ, der Anekdoten mit melodramatischen Effekten ausstattet. Aber sein Blick bekommt in solchen Momenten wieder etwas Bohrendes, und man versteht mit einem Mal, weshalb die „New York Review of Books“ diesen äußerlich so unauffällige Mann zum „Chef-Schamanen“ einer neuen Schule beängstigender amerikanischen Literatur erklärt hat. Bücher, Sätze oder Worte sind für ihn mehr als notierte Informationen. Sie haben ein eigenes Leben, eine eigene Macht. Als wir uns verabschiedeten, fragte ich ihn nach dem Roman, an dem er zur Zeit arbeitet. Er will nicht darüber sprechen, ist sichtlich besorgt. Es wird sein größtes, sein wichtigstes Buch werden und den Titel „Unterwelt“ tragen: „Es versucht, mich zu töten“, sagt DeLillo, während wir uns die Hände geben. Er dreht sich um, eine gewöhnliche Gestalt, absolut verwechselbar, solange man nicht in seine Augen schaut, und verschwindet in der New Yorker Menschenmenge. Inzwischen hat er den Kampf mit dem Monstrum ausgestanden.

Don DeLillo: „Die Namen“. Roman. Aus dem Amerikanischen von Matthias Müller. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1994. 425 Seiten, 48,00 DM

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