V. S. Naipaul, der radikale Romancier und Reporter von den Karibischen Inseln, auf seiner endlosen Reise
London, Mai 1954: In einem mit Menschen, Möbeln und Manuskripten vollgestopften Büro der BBC sitzt ein kleiner Mann mit unverkennbar indischen Gesichtszügen. Er ist 21 Jahre alt und freier Mitarbeiter der englischen Rundfunkanstalt. Doch an diesem Tag arbeitet er nicht für irgendeine Sendung. In grotesker Haltung, die Schultern weit zurückgeworfen, die Füße rechts und links auf der obersten Strebe des Stuhls, kauert er „wie ein Affe“ vor einer BBC-Schreibmaschine und tippt auf „nicht raschelndem“ BBC-Papier den ersten Satz seines ersten druckreifen Buchs. Der Satz war ihm ohne großes Nachdenken in den Sinn gekommen, und das Buch, an dessen Anfang er stand, sollte erst drei Jahre danach veröffentlicht werden. Dennoch war jener Augenblick im Redaktionsraum der BBC die entscheidende Wende im Leben des Vidiadhar Surajprasad Naipaul, der Moment, in dem er zum Schriftsteller wurde. Er hat ihn in seiner Autobiographie festgehalten und liebevoll ausgemalt. Heute, fast 40 Jahre später, gehört Naipaul zu den bedeutendsten Autoren der englischsprachigen Welt. Er hat bislang rund 20 Bücher veröffentlicht, Essays, Erzählungen, Romane, die zu den besten zählen, die in seiner Generation geschrieben wurden: ein in jeder Hinsicht außergewöhnliches und imponierendes Werk, für das er unter Insidern der Buchbranche seit Jahren als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt wird. Naipaul ist Romancier und Reporter zugleich, und er vereint diese beiden Rollen mit einer Perfektion, für die es im deutschen Kulturraum keinen Vergleich gibt. Er kennt nicht nur den Globus sondern auch die Seele der Menschen bis in die abgelegensten Winkel. Er versteht es darüber hinaus, sein Wissen in einfache und klare, aber mitreißend erzählte Geschichten zu verwandeln. Sollten sich die Historiker künftiger Jahrhunderte irgendwann einmal ein Bild davon machen wollen, wie die Völker der verschiedenen Kontinente in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zusammenlebten, werden sie in den Büchern V. S. Naipauls eine Quelle ersten Rangs finden. Er wurde 1932 auf Trinidad geboren. Sein Großvater kam als einfacher Plantagenarbeiter aus dem indischen Uttar Pradesh auf die Insel in der Karibik. Naipauls Vater arbeitete zunächst als Drucker und diente sich, angetrieben von einer ungeheuren Begeisterung für das Schreiben, zum Berichterstatter der englischsprachigen Zeitung „The Trinidad Guardian“ hoch. Diese beiden Eigenschaften hat er an seinen Sohn vererbt: den unbeugsamen Willen und die Leidenschaft für die Literatur. Hinzu kam das ausgeprägte Selbstbewußtsein V. S. Naipauls: Schon als Schüler der fünften Klasse kritzelte er das Gelöbnis in sein Lateinbuch, Trinidad binnen fünf Jahren zu verlassen – zu eng, zu provinziell erschien ihm die Insel. Er schwor sich, sein Leben um keinen Preis in der Abgeschiedenheit zu vertun. Tatsächlich brauchte er nur ein Jahr länger, um sein Vorhaben zu verwirklichen. Gerade achtzehnjährig brach er, mit einem Staatsstipendium versehen, nach Oxford auf, um Literatur zu studieren. Zurück blieben die Familie und die Heimat, in der er sich später genauso fremd fühlen sollte, wie an jedem anderen Ort der Erde: „Ich verließ sie alle und ging forsch auf das Flugzeug zu, ohne zurückzuschauen.“ Sein Vater starb drei Jahre später, der Sohn sah ihn nicht wieder. Naipaul ist kein Mann für halbe Sachen: Mit fast unmenschlicher Konsequenz verfolgte er seinen Traum, Schriftsteller zu werden. Bis heute ist er stolz darauf, nie einen anderen Beruf erlernt zu haben. Selbst einen gutdotierten Job als Werbetexter warf er nach wenigen Wochen hin, um wieder an seine Schreibmaschine zurückzukehren. Er zog es vor, von wenigen Pfund zu leben, zur Untermiete zu wohnen und bis zur totalen Erschöpfung an seinen Manuskripten zu arbeiten. „Ich stand“, notiert er später, „dauernd unter einem enormen Druck.“ Aber es gelang ihm, diesen Druck produktiv zu nutzen: Im ersten Jahrzehnt seiner Karriere publizierte er neun gewichtige Bücher, darunter eines seiner Meisterwerke: „Ein Haus für Mr. Biswas“. In diesem Roman fand er endgültig zu dem Thema seines Lebens. Mit dem großen Atem eines Epikers entwirft er ein Panorama des heillosen Völkergemischs in der Karibik. Inmitten des wüsten Durcheinanders der Rassen, Religionen und Kulturen ringt Mr. Biswas, ein dünnhäutiger Inder, um Orientierung für seine Existenz. Verzweifelt und allen Rückschlägen zum Trotz arbeitet er jahrzehntelang, um seiner Familie ein Haus bauen zu können: eine Zuflucht im Chaos. Als es endlich bezugsfertig ist, steht Biswas bereits am Rand des Todes und stirbt bald darauf – aber er hinterläßt ein wunderbares Symbol für die menschliche Beständigkeit und Willenskraft. Naipaul wurde seither nicht müde, die neuen Gefahren unserer multikulturellen Zukunft zu beschwören. Er ist der große Chronist jener modernen Völkerwanderungen, die heute Europa erschüttern. Die ersten Anzeichen dieser kommenden Unruhen spürte er schon vor Jahrzehnten in der Dritten Welt auf. Immer wieder beschreibt er die Einsamkeit des einzelnen angesichts dieses gigantischen Umbruchs, die Verlorenheit des Individuums, das auf keine verbindliche Tradition mehr zurückgreifen kann. Aber er läßt zugleich keinen Zweifel daran, daß diese Zukunft unaufhaltsam ist, ja daß sie längst begonnen hat – wie Naipauls eigenes Schicksal belegt. Er gehört zu den Heimatlosen, den ewig Reisenden, die nirgendwo zur Ruhe kommen. „Der Bequemlichkeit halber“ hat er seinen festen Wohnsitz in Großbritannien, London bietet ihm beste Flugverbindungen. Über sein Landhaus in Wiltshire hat er ein – leider recht langatmiges – Buch geschrieben, das jetzt in Deutsch erschienen ist: „Das Rätsel der Ankunft“. Doch die meiste Zeit seines Lebens verbrachte er in Hotels oder proviso- rischen Unterkünften. Er wohnte in Indien und Pakistan, durchstreifte die islamische Welt vom Iran über Malaysia bis nach Indonesien, studierte die USA, Lateinamerika und die Karibik. Über Afrika schrieb er zwei seiner schönsten Bücher „Sag mir, wer mein Feind ist“ und „An der Biegung des großen Flusses“. Mit seinem scharfen Verstand und seinem unbestechlichen Blick macht sich Naipaul allerdings nicht nur Freunde. Er erkennt die Schwächen seiner Zeitgenossen, und er hat den Mut, sie öffentlich anzuprangern. Sein Fazit, nachdem er als Collegelehrer in den Vereinigten Staaten gearbeitet hatte: „Ungebildete Studenten mit weißen Söckchen bedrohen Amerika mehr als Öl-Embargos.“ Über seine britische Wahlheimat schrieb er: „Das Leben hier ist eigentlich eine Art Kastration. In England sind die Leute sehr stolz darauf, dumm zu sein.“ Anstoß erregte Naipaul oft mit seinen Ansichten über Staaten der Dritten Welt, die er auf seinen Reisen erkundete. Er ist kein Mann der politisch ausgewogenen Formulierung. Er will provozieren, Tabus verletzen und so neue Einsichten vermitteln: „Die Leute sagen, der Mann im Busch ist ausgebeutet worden, ist ein Opfer des Kolonialismus. Ich dagegen glaube, daß die Menschen in Europa viel größere Ungewißheiten und Gewalt ertragen haben als je ein Mensch, der im Busch lebt. Ich bin erstaunt über diese Kreativität in Europa. Europa wird kreativ bleiben. Unkreative Länder, das sind doch wohl die arabischen Länder und Afrika. Sie tun nichts, das sind parasitäre Orte.“ Man hat Naipaul vorgehalten, aus solchen Sätzen spräche die Arroganz des Emporkömmlings, aber sein Furor ist stets durch enorme Kompetenz untermauert: Er weiß genau, wovon er spricht, und er kann es gut begründen. Außerdem wendet sich seine Kritik grundsätzlich gegen beide Seiten, gegen die Armen und die Reichen, gegen die Erste und die Dritte Welt. Tatsächlich neigt Naipaul, der es vom namenlosen Koloniebewohner zum Kos- mopoliten und Weltautor brachte, zu unerbittlichen Urteilen. Naipaul schont nichts und niemanden – aber am wenigsten sich selbst. Er legt die strengsten Maßstäbe an seine Bücher an und läßt beim Schreiben keine Entschuldigungen gelten. Er ist ein fanatischer Arbeiter, der seine Manuskripte, nachdem sie getippt sind, mehrfach mit der Hand abschreibt und an jedem Satz, jeder Formulierung tagelang feilt – oft bis zum körperlichen Zusammenbruch. Auf diese Weise wurde V. S. Naipaul, was er heute ist: ein, im buchstäblichen Sinn des Wortes, freier Autor. Er ist niemandem etwas schuldig, er kennt keine Rücksichten oder Kompromisse. Seine Überzeugungen sind an keine Parteien oder Institutionen gebunden – und gerade deshalb so wertvoll. Kein Wunder, daß er seine Souveränität letztlich mit Anfeindungen und Einsamkeit bezahlen mußte. Doch beklagt hat er sich nie. Sein Interesse gilt allein der Literatur und dem Versuch, sich den Tatsachen des Lebens so illusionslos wie möglich zu stellen: „Das hat mir Unabhängigkeit bewahrt: von Leuten, von Verstrickungen, von Rivalitäten, vom Wettbewerb. Ich habe keine Gegenspieler, keine Rivalen, keine Meister; ich fürchte niemanden.“