Zeuge des Untergangs

 Die gesammelten Gedichte Heiner Müllers – Band eins einer umfassenden Werkausgabe  

Als die Gletscher der letzten Eiszeit abschmolzen, ließen sie auf mancher grünen Wiese mächtige Felsbrocken zurück. Diese erratischen Blöcke, die das Eis von weit entfernten Gebirgen herangeschleppt hat, werden heute Findlinge genannt. Sie wirken wie monumentale Gedenksteine für eine fremde, unwirtliche Vergangenheit. Vor knapp zehn Jahren fand der reale Sozialismus, der wie eine politische Eiszeit über Osteuropa lag, sein abruptes Ende. Eins der bedeutendsten literarischen Zeugnisse dieser vergangenen Epoche ist das Werk Heiner Müllers (1929-1995). Es wirkt heute in unserer veränderten Kulturlandschaft wie ein Findling, wie ein erratischer Block. Aus seiner natürlichen Umgebung herausgebrochen und auf eine grüne (Spiel-)Wiese geraten, erinnert es an eine fremde, unwirtliche Vergangenheit. Der Kontrast könnte kaum größer sein: Während die Literatur heute im Zeichen der Ironie und des Spiels steht, ist Müllers Arbeit von ungeheurem Pathos geprägt, von einer geradezu obsessiven Emphase angesichts der Geschichte. Während die Autoren der Gegenwart feinen historischen Differenzen nachspüren, betrachtete Müller die Vergangenheit ziemlich pauschal als ein einziges Gemetzel, das erst durch eine befreiende Revolution beendet werden könnte. Während mittlerweile das Bekenntnis zur Demokratie und zum friedlichen Interessenausgleich auch zum guten Ton der literarischen Debatten gehört, glaubte Müller allein an die klärende Kraft des Konflikts, der – wenn nötig gewalttätig – Entscheidungen herbeizwingt. Zu all dem war Müller ein Meister der Sprache, wohl einer der größten der deutschen Nachkriegsliteratur. Ein Wortmagier, der schon Mitte der achtziger Jahre mit Befremden auf die Zeit blickte, in die er da geraten war: in eine Epoche der „Verkommenheit von Arbeitsmoral und Handwerk auch bei den Schriftstellern. Es gibt keine Maßstäbe mehr. Es ist überhaupt nicht mehr notwendig, einen Satz so zu formulieren, daß er mindestens grammatisch exakt ist. Man kann die größte Scheiße zusammenschmieren – es spielt überhaupt keine Rolle mehr, wenn es verkauft wird.“ Müllers eindrucksvolle Sprachkraft wird auch in dem jetzt erschienenen ersten Band der auf sieben Bände veranschlagten Gesamtausgabe seiner Werke deutlich. Hier sind alle Gedichte dieses Autors versammelt, der als Dramatiker berühmt wurde und doch viele Jahre seines Lebens fast nur Lyrik geschrieben hat. Der Band ist 360 Seiten stark geworden. Er enthält sämtliche bekannten Gedichte Müllers sowie zahlreiche bisher unbekannte Arbeiten aus dem Nachlaß und die Übersetzungen fremdsprachiger Stalin-Hymnen, die er vor den Weltfestspielen 1951 gegen gutes Geld wie „am Fließband“ anfertigte. Zu Lebzeiten hat Müller viele seiner Gedichte unter dem Titel „Lektionen“ zusammengefaßt. Zu Recht, denn seine Verse zielen eher auf den Kopf seiner Leser als auf ihren Bauch. Er schrieb eine Gedankenlyrik, die sich vor allem an politischen Themen entzündete, genauer: an der Idee einer weltverändernden Revolution und an den Problemen beim Aufbau eines sozialistischen Staates. Die Verwandtschaft seiner Texte mit denen seines großen Vorbilds Brecht ging in jungen Jahren so weit, daß ihm Stephan Hermlin ein zur Veröffentlichung eingesandtes Gedicht mit der Randbemerkung zurückschickte: „Das ist denn doch zu viel Brecht!“ Im Zusammenhang gelesen, zeichnet die Lyrik die politische Ernüchterung Müllers nach: den ganz allmählich beginnenden, dann aber immer radikaler werdenden Zusammenbruch seines Vertrauens in den realen Sozialismus. Mit dem Ende der Hoffnung auf die angeblich soviel bessere Gesellschaftsordnung erlosch für ihn auch jede andere politische Zuversicht. Von nun an hielt die Zukunft für ihn nur noch das bereit, was schon die Vergangenheit für ihn war: reine Barbarei. Gerade das macht, in der Epoche nach dem Scheitern der sozialistischen Staaten, das Unzeitgemäße in Müllers Werk aus. Sein Blick war so ausschließlich auf die revolutionären Umbrüche der Geschichte fixiert, daß er die langsamen Entwicklungen hin zu größerer Menschlichkeit nicht wahrnehmen konnte. Seine Utopie – die fast religiöse Züge trug – war eine Erlösung von allem Übel durch einen grundlegenden gesellschaftlichen Neuanfang. Friedrich Dürrenmatt schrieb über den Dramatikerkollegen und -konkurrenten Brecht, dieser denke so „unerbittlich, weil er an vieles unerbittlich nicht denkt“. Auch in diesem Punkt muß man Müller wohl als legitimen Nachfolger Brechts bezeichnen. Sein Werk ist von imponierender Konsequenz und kaum bestreitbarem literarischem Rang. Doch als „Laboratorium sozialer Fantasie“, als das er sein Theater verstanden wissen wollte, ist es heute nur in eingeschränktem Maße brauchbar. Denn Müller wurde zutiefst geprägt von einem gnadenlosen Weltkrieg und dem Kampf der Ideologien. Heute, in Zeiten zivilen Wettbewerbs, wirkt sein Werk wie ein Findling, wie ein düsteres Mahnmal, das die Möglichkeit einer ganz anderen, erschreckenden Lebenswirklichkeit in Erinnerung ruft.

Die Rezension erschien im Nachrichtenmagazin „Focus“ vom 20. April 1998

Heiner Müller: „Werke 1. Die Gedichte“ Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998 360 Seiten, 18,00 Euro ISBN 978-3518408933

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