Der Axolotl-Komplex

Sollte man Plagiate mit Preisen würdigen?

Zu Beginn der Leipziger Buchmesse ist die Debatte um Helene Hegemanns Buch „Axolotl Roadkill“ neu entbrannt   Geht es wirklich noch um Helene Hegemann und ihr Buch „Axolotl Roadkill“? Oder geht es längst um ganz andere Themen: Um die Rettung des Urheberrechts? Um den Einfluss klug inszenierter PR-Kampagnen auf den Kulturbetrieb? Um – ein Evergreen – den Zustand der deutschen Literaturkritik? Wie lässt sich der nicht enden wollende publizistische Lärm um den Roman der inzwischen 18-jährigen Autorin erklären? Auch dieser Artikel hier ist Teil dieses Lärms, setzt die Kakophonie fort, provoziert möglicherweise sogar – bitte, bitte nicht! – irgendeinen Widerspruch, der dann den Lärm weiterführt. Das eben ist der Fluch der bösen Tat, dass sie fortzeugend immer Böses muss gebären. Übrigens: Der letzte Satz ist von Schiller, nicht von mir. Hätte ich mich jetzt einer Urheberrechtsverletzung schuldig gemacht, wenn ich das nicht gleich dazusagte? Oder ginge ein solches Zitat ohne Anführungszeichen, Fußnote und Autorenangabe noch als Beispiel einer literarischen Collage-Technik durch? Als praktizierte copy & paste-Ästhetik? Die „Leipziger Erklärung zum Schutze geistigen Eigentums“, die jetzt zum Auftakt der Leipziger Buchmesse vom Verband deutscher Schriftsteller (VS) veröffentlicht wird, schlägt in diesem Punkt einen barschen, drakonischen Ton an: „Wenn ein Plagiat als preiswürdig erachtet wird, wenn geistiger Diebstahl und Verfälschungen als Kunst hingenommen werden, demonstriert diese Einstellung eine fahrlässige Akzeptanz von Rechtsverstößen im etablierten Literaturbetrieb. (…) Kopieren ohne Einwilligung und Nennung des geistigen Schöpfers wird in der jüngeren Generation, auch auf Grund von Unkenntnis über den Wert kreativer Leistungen, gelegentlich als Kavaliersdelikt angesehen. Es ist aber eindeutig sträflich – ebenso wie die Unterstützung eines solchen ‚Kunstverständnisses’“. Unter der Erklärung finden sich einige der klangvollen Namen der deutschen Gegenwartsliteratur von Günter Grass bis Christa Wolf. Nimmt man den Text wortwörtlich ernst, dann richtet er nicht nur gegen Helene Hegemann – die von der Jury des Preises der Leipziger Buchmesse als „preiswürdig“ in Betracht gezogen wird, obwohl sie in ihrem Roman eine ganze Menge Text „ohne Einwilligung und Nennung der geistigen Schöpfer“ abgeschrieben hat. Nein, in den Augen der Unterzeichner verhalten sich offenbar schon all jene „eindeutig sträflich“, die sich der „Unterstützung eines solchen ‚Kunstverständnisses’“ schuldig machen. Das klingt fast so, als drohte der VS allen Kritiker, die Helene Hegemann bejubelten und also unterstützten, damit, sie demnächst vor Gericht zu zerren. Man fasst sich an den Kopf. Doch ganz so einfach wie das Leipziger Manifest tut, liegen die Dinge nicht. Nehmen wir zum Beispiel Christa Wolf, die es unterschrieben hat. Der erste Satz ihres Romans „Kindheitsmuster“ aus dem Jahr 1976 lautet: „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen.“ Ein wunderschöner Romanauftakt, der sofort in die Geschichte hineinzieht. Allerdings stammt er dummerweise nicht von Christa Wolf, sondern findet sich in William Faulkners Roman „Requiem für eine Nonne“ aus dem Jahr 1951. In der Übersetzung von Robert Schnorr sind es zwei Sätze und sie lauten: „Die Vergangenheit ist niemals tot. Sie ist nicht einmal vergangen.“ Weder hat Christa Wolf den Anfangssatz ihres Romans in Anführungszeichen gesetzt, noch hat sie ihrem Buch eine Danksagung an Faulkner angefügt. Christa Wolf eine Wegbereiterin der copy & paste-Ästhetik? „Kindheitsmuster“ ein Plagiat? Nein, natürlich nicht. Christa Wolf hat in „Kindheitsmuster“ ein uraltes literarisches Gewohnheitsrecht für sich in Anspruch genommen, nämlich das Recht, die Themen und manchmal auch die Sätze anderer Schriftsteller aufzugreifen und im eigenen Werk weiterzudenken. Die literaturhistorischen Beispiele dafür sind Legion – und es sind in der quälenden Debatte um Helene Hegemann so viele davon aufgezählt worden, dass ich mir das hier sparen kann. Mit anderen Worten: Anders als die „Leipziger Erklärung“ suggeriert, kommt es nicht darauf an, ob ein Schriftsteller an fremden Töpfen nascht und „ohne Einwilligung und Nennung der geistigen Schöpfer“ kopiert, sondern ob er die übernommenen Themen oder Sätze tatsächlich weiterdenkt, fortentwickelt und so in etwas Neues, Eigenes verwandelt. Ist Helene Hegemann das in ihrem Roman gelungen? Offen gestanden, mir fällt es nicht leicht, darauf zu antworten. Im Gegensatz zu einigen meiner Kritikerkollegen (darunter sehr respektierte und verehrte Kollegen) halte ich „Axolotl Roadkill“ für derart missraten und wirr, das Deutsch Helene Hegemanns für so unbeholfen und dümmlich, dass ich das Buch (zähneknirschend) ein zweites Mal las, weil ich fürchtete, irgendwas übersehen zu haben, was die sehr respektierten und verehrten Kollegen entdeckt hatten. Aber ich fand nichts. Das Buch ist und bleibt für mich eine Wüste der Einfallslosigkeit und der schlechten Sprache. Aber warum, wird daraufhin der kritische Leser fragen, warum um Himmels willen schreiben Sie denn als Literaturkritiker ausgerechnet über einen Roman, den sie offensichtlich überhaupt nicht mögen? Fällt Ihnen nichts Besseres ein? Eine prima Frage, möchte ich dem kritischen Leser antworten, ganz prima, sie führt uns nämlich direkt zu den beiden anderen eingangs erwähnten Punkten – Einfluss von PR-Kampagnen auf den Kulturbetrieb und die immergrüne Sorge um den Zustand der Kritik – die interessanter sind als ein dürftiger Erstlingsroman. Alle Verlage wollen ihre Bücher so gut wie möglich verkaufen. Sie müssen das, die Autoren erwarten es von ihnen, verständlicherweise. Doch die meisten PR-Strategien, die in den Verlagen ersonnen werden, zünden nicht. Würden alle zünden, hätten wir nur Bestseller. Manchmal aber springt der Funke über, lässt die einen Kritiker jubeln, die anderen Buh brüllen, die einen über die Stimme einer Generation jauchzen, die anderen Plagiat schreien. Mitunter führt das zu einem fabelhaften publizistischen Flächenbrand – was aber im Regelfall nur dann gelingt, wenn es nicht mehr nur um ein Buch, sondern vor dem Hintergrund des Buches um allgemeine Reizthemen geht. Bei „Axolotl Roadkill“ zum Beispiel um Sex, Drogen und Wohlstandsverwahrlosung bei Jugendlichen, um den angeblichen Hass alter Kulturplatzhirsche auf eminent begabte junge Frauen oder um den vermeintlich generationsspezifischen Streit zwischen aktueller copy & paste-Ästhetik und überkommenen Vorstellungen von Originalität. Greift ein solcher Flächenbrand erst einmal um sich, ist man als Kritiker oft genug nicht mehr frei zu schreiben oder zu schweigen, sondern schnell gezwungen, Stellung zu nehmen, schließlich soll die eigene Zeitung ja nicht die einzige sein, die das Thema verpasst. Allerdings sorgt jede denkbare Wortmeldung (auch diese hier) nur noch dafür, das die Flammen des Flächenbrandes immer höher schlagen. Wenn die „Leipziger Erklärung“ jetzt zum Beispiel „der jüngeren Generation“ reichlich pauschal bescheinigt, dass sie „auf Grund von Unkenntnis über den Wert kreativer Leistung“ Urheberrechtsverletzungen als „Kavaliersdelikte“ ansieht, dann liefert sie damit Leuten, die sich für jung halten, eine wunderbare Vorlage, mit prächtigen rhetorischen Schwung auf Ältere und deren Kunstverständnis loszugehen. Entschieden wird bei all dem naturgemäß gar nichts mehr. Die Hoffnung, am Ende der Debatte ließen sich auf dem Schlachtfeld Sieger und Verlierer ausmachen, ist illusorisch. Das war so bei allen ausufernden Literaturdebatten der jüngsten Zeit so. Hat Botho Strauß mit seinem „anschwellendem Bocksgesang“ die rechte Rückkehr zum Mythos gepredigt? Hat Peter Handke den serbischen Killer Milosevic in Schutz genommen? Hat Martin Walser in „Tod eines Kritikers“ bewusst mit antesemitischen Motiven gespielt? Ab einer bestimmten Größenordnung führen literarische Debatten nicht mehr zu Ergebnissen, sondern nur dazu, dass die debattierten Themen irgendwann erschöpft beiseite gelegt werden. Ich weiß nicht, ob die Hegemann-Debatte dieses Stadium schon erreicht hat. Schön wäre es schon.

Der Artikel erschien in der „Welt“ vom 17. März 2010

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