„Nichts, was man fürchten müsste“

Julian Barnes brillanter Essay über den Tod

Vielleicht sollte dieses Buch den Aufdruck tragen: „Nur für Leser mit starken Nerven!“ Gewöhnlich finden sich solche Warnungen ja auf blutrünstigen Thrillern und sind als Werbung gedacht. Doch Julian Barnes „Nichts, was man fürchten müsste“ ist alles andere als ein Thriller: Auf Spannung wird kein Wert gelegt, der Leser weiß immer, wie es ausgeht, und der Täter steht von Anfang an fest – denn das Buch handelt vom Tod. Julian Barnes wirft hier einen möglichst illusionslosen Blick auf die einzige Tatsache, die das Leben mit hundertprozentiger Gewissheit für alle bereithält. Der Hinweis, dass sich die Lektüre für die Nerven sensiblerer Gemüter als Belastung erweisen kann, wäre also nicht als Werbung, sondern wortwörtlich zu verstehen. Eine der Grundvoraussetzungen dieses Essays ist, dass er die Tröstungen, die von den Religionen bereitgehalten werden, beiseite lässt. Barnes ist die Gabe des Glaubens nicht gegeben. In seiner Familie hat das Tradition, bereits die Großeltern und Eltern betrachteten sich als Agnostiker oder Atheisten, Barnes Bruder und dessen Kinder ebenfalls. „Ich wurde nie getauft, nie in die Sonntagsschule geschickt. Ich habe mein Leben lang nie einen normalen Gottesdienst besucht.“ Barnes stellt das sachlich und ohne kirchenfeindliches Triumphgeheul fest. „Ich glaube nicht an Gott, aber ich vermisse ihn“, lautet der erste, programmatische Satz des Buches, in dem das Bedauern, für die Verheißung einer jenseitigen Welt nicht empfänglich zu sein, gleich unüberhörbar wird. Zu den großen Vorzügen von „Nichts, was man fürchten müsste“ gehört, dass Barnes sein Thema nie als philosophischen Parcours betrachtet, auf dem es vor allen Dingen intellektuelle Bravour zu beweisen und gute literarische Haltungsnoten zu kassieren gilt. Sicher, der Essay ist brillant geschrieben, klug, witzig, kurzweilig, kenntnisreich, nie aber verleugnet Barnes in welchem Maße ihn das Thema persönlich beschäftigt, nämlich Tag für Tag und dazu noch in „periodisch auftretenden nächtlichen Attacken“. Kommt hinzu, dass Barnes‘ Frau, die Literaturagentin Pat Kavanagh, vor anderthalb Jahren, als das Buch im englischen Original erschien, an einem Hirntumor starb. Doch von deren Leidensgeschichte ist in dem Essay mit keinem Wort die Rede, Barnes übt sich da streng in britischer Diskretion. Vielmehr geht es ihm um die Frage, ob und wie sich das Bewusstsein des Todes als der künftigen unvermeidlichen Vernichtung erträglich gestalten lässt? Barnes‘ Antwort ist so einfach wie hoffnungslos: Gar nicht. Natürlich ist sich Julian Barnes darüber im Klaren, dass er mit seinem Buch lediglich eine neue Furche auf einem der am meisten beackerten Felder der Weltliteratur zieht. Das Thema Tod füllt seit alters die Bibliotheken. Zu Barnes‘ wichtigsten literarischen Gewährsmännern zählt Montaigne (1533-1592), mit dem das moderne, irreligiöse Nachdenken über den Tod beginnt. An diesem Vorbild hat er sich auch formal orientiert: Sein Essay ist, wie die „Essais“ des großen Franzosen, streng unwissenschaftlich, voller Anekdoten, Zitate, autobiografischer Splitter, immer wieder bereit, seinen Gegenstand vorurteilsfrei aus neuen Perspektiven zu betrachten, und nie darauf aus, seine Einsichten ins Korsett irgendeines Denksystems zu pressen. In einer Hinsicht allerdings ist Barnes weitaus skeptischer als Montaigne. Der bot, obwohl er den Schoß der Kirche nicht verließ, seinen Lesern eine Vielfalt von weltlichen, glaubenslosen Lebensregeln an, die das Entsetzen vor dem Tod angeblich zu mildern vermögen. Barnes zählt sie alle auf und dazu noch ähnliche Maximen anderer Schriftsteller wie Jules Renard, Stendhal oder Flaubert. Doch lässt er erkennen, dass ihn keine davon überzeugt, dass keine sein Grauen vor der kommenden Auslöschung eindämmen konnte. Auch das beliebte Argument, Schriftsteller und Künstler würden zumindest einen Teil ihres Geistes und also ihrer Persönlichkeit in ihren Werken konservieren und so über das eigene Ableben hinwegretten, trägt in seinen Augen nicht weit. Denn damit wird die Auslöschung nur hinausgeschoben: die Werke der allermeisten Autoren und Künstler sind wenige Jahre nach ihrem Tod vergessen, die der talentiertesten nach ein paar Jahrhunderten – was angesichts der Jahrmilliarden des Seins eine geringe Frist ist. Kurz: Barnes gewährt seinen Lesern keinen Lichtblick. Und er beruft sich dabei nicht nur auf die Alten Meister der Literatur, sondern kann erst recht auf Ergebnisse jüngerer naturwissenschaftlicher Forschungen verweisen. In deren Licht betrachtet sind wir Sklaven unserer Gene, ohne feste Persönlichkeit, ohne freien Willen, ohne Seele – und haben nach den Gesetzen der Evolution eine panische, aber nützliche Angst vor dem Tod entwickelt, weil das die Chance auf Fortpflanzung erhöht. Wenn dieses kaltherzige Resümee, so zitiert Barnes den Biologen Richard Dawkins, die Menschen „in Verzweiflung stürzt, ist das Pech. Das Universum schuldet uns weder Mitleid noch Trost; es schuldet uns kein schönes warmes Gefühl in unserem Inneren. Wenn es wahr ist, dann ist es wahr, und damit muss man halt leben.“ Wie gesagt: Für Leser mit zarten Nerven, oder solche, die auf Zerstreuung oder Erbauung aus sind, ist dieser Essay nichts. Für die anderen aber schon. In seinen Meisterwerk „Flauberts Papagei“ fragt Julian Barnes einmal: „Warum wollen wir das Schlimmste wissen?“ Eine indirekte Antwort darauf findet sich in einem Brief Flauberts, den Barnes zitiert: Flaubert beschreibt darin einen Hagelschauer, der seine Heimatstadt Rouen verwüstete. Flaubert war sofort begeistert: ein „erstklassiger Hagelschlag“. Das Unwetter hatte in Minuten die Fassaden abgeräumt, mit denen man sich so gern über die Natur der Dinge hinwegtäuscht und stattdessen ein paar grimmige Tatsachen des Daseins in Erinnerung gebracht. Die Wirkung von „Nichts, was man fürchten müsste“ ist ähnlich: ein erstklassiger Hagelschlag.

Die Rezension erschien in der „Welt“ vom 13. März 2010

Julian Barnes: „Nichts, was man fürchten müsste“. Aus dem Englischen von Gertraude Krueger. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010. 333 Seiten, 19,95 Euro. ISBN 978-3-462-04186-6

Dieser Beitrag wurde unter Julian Barnes veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.