Wie Durs Grünbein sich in Gottfried Benn verwandelte

 Der Fall Hegemann dadaistisch gesehen

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 23. Februar 2010 veröffentlichte der Lyriker und Büchnerpreisträger Durs Grünbein einen Artikel unter seinem Namen, der bis auf einige Retuschen von Gottfried Benn stammt. In diesem Artikel, der 1926 in der Vossischen Zeitung erschien, nahm Benn die Schriftstellerin Rahel Sanzara gegen den Vorwurf in Schutz, in ihrem Roman „Das verlorene Kind“ Material verwendet zu haben, das „nicht ihr geistiges Eigentum“ sei, sich also eines Plagiates schuldig gemacht zu haben. Durch seine Retuschen, die darauf zielten, die historischen Namen und Gegebenheiten aus dem Jahre 1926 durch aktuelle zu ersetzen, gab Grünbein der in der FAZ publizierten Fassung des Textes den Anschein, es sei seine „Wortmeldung“ zu dem Plagiatsvorwürfen, die gegenwärtig gegen Helene Hegemanns Roman „Axolotl Roadkill“ erhoben werden. In einem kurzen Interview, das die FAZ jetzt druckt, deckt Grünbein diese Manipulation auf. In der „Welt“ vom 24. Februar 2010 habe ich den unter Grünbeins Namen erschienenen Artikel kommentiert. Dass er darin die Plagiatsvorwürfe gegen Helene Hegemann nicht ernst nahm, war mir nicht weiter wichtig – denn auch in meinen Augen haben sie keine erhebliche literarische Bedeutung. Wohl aber kritisierte ich die Intellektuellenfeindschaft und den ästhetischen Irrationalismus der in den Argumenten zum Ausdruck kommt, mit denen in diesem Artikel der Begriff Plagiat vom Tisch gewischt wurde: „Man sollte“, heißt es in dem unter Grünbeins Namen gedruckten Text, „also nicht diese Begriffe an das Buch, sondern dies Buch an jene Begriffe anlegen und, wenn sie sich als albern oder langweilig herausstellen, sollte man sie abbauen oder übergehen. Begriffe wie Menschen, alles was nicht fühlt, dass dieses Buch jenseits der Nachprüfung steht und aller literarischen Intellektualismen“. Wer diese Sätze genau liest, erkennt, dass hier nicht nur Begriffe, sondern auch Menschen „abgebaut“ werden sollen, falls sie nicht das gleiche fühlen, wie der Autor des Textes. Darin offenbart sich, schrieb ich in meinem Kommentar, ein „doktrinärer Zug“ im Denken Grünbeins. Nun stellt Grünbein also in seinem FAZ-Interview klar, dass der unter seinem Namen veröffentlichte Text zum allergrößten Teil von Benn und nicht von ihm stammen – wodurch die „leidige Dauerdebatte um Frau Hegemann“ in seinen Augen „eine Drehung ins Dadaistische“ bekomme. Muss ich mich also entschuldigen? Ja, und zwar bei den Lesern der „Welt“, weil ich den Artikel Benns aus der Vossischen Zeitung nicht erkannte und also auch nicht Grünbeins Manipulation. Zu meiner Entlastung darf ich vielleicht hinzufügen, dass der Artikel von 1926 nicht zu Benns Hauptwerken gehört. Muss ich mich auch bei Grünbein entschuldigen? Ich bin mir nicht sicher. Benns Denken hatte zweifellos einen doktrinären Zug – der schließlich in Benns Bekenntnis zum Nationalsozialismus 1933 mündete. Von „auszuscheidenden minderwertigen Volksteilen“ schwadronierte er damals, die durch „qualitativ hochwertiges Menschenmaterial“ zu ersetzen seien. Dieses doktrinäre Element klingt bereits gut hörbar in den zitierten Sätzen von 1926 an. Weshalb Grünbein um eines literarischen Scherzes willen von der Halbwertzeit eines Tages eine derart gruselige Argumentation unter seinem Namen erscheinen ließ, ist mir rätselhaft.

Der Artikel erschien in der „Welt“ vom 25. Februar 2010

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