Moritz Rinkes „Mann, der durch das Jahrhundert fiel“ Gleich auf der ersten Seite des Romans tritt die Katastrophe ein. Pauls Kindheit bricht in der Mitte auseinander. Genauer: Das Haus, in dem Paul seine Kindheit verbrachte, bricht auseinander. Es wurde im Teufelsmoor bei Worpswede, der norddeutschen Künstlerkolonie, auf nicht fachgerecht befestigtem Boden gebaut. Nun versackt es nach und nach im Sumpf – und der Versuch, es durch betongefüllte Bohrungen im Erdreich zu stabilisieren, gibt ihm den Rest: Ein Riss quer durchs Fundament spaltet es in zwei Teile, einen Ost- und einen Westflügel, die nun allmählich vom Moor verschlungen werden. Der Fachmann nennt das einen „Grundbruch“ und weiß, dass da nichts mehr zu retten ist. Einem Schriftsteller, der seinen Familienroman mit einem derart dramatischen Bild beginnen lässt, kann man Dezenz nicht vorwerfen. Moritz Rinke, der sich bislang vor allem als Theaterautor profilierte, bevorzugt ein seinem ersten Roman „Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel“ die knalligen Effekte. Wenn er zudem dafür sorgt, dass bei den Rettungsarbeiten für das gefährdete Gebäude spektakuläre Beweise für die Nazi-Vergangenheit des Familienpatriarchen ausgegraben werden, dazu noch ein monströses, ängstlich beschwiegenes Verbrechen die Familiengeschichte überschattet, die Tochter des Hauses sämtliche Stereotypen der frauen- und studentenbewegten Alt-68-erin auf sich vereint und der Enkel eine typische Prekariats-Existenz führt, dann kann man schon auf die Idee verfallen, der Grundriss dieses Romans sei überdeutlich entlang der jüngeren deutschen, in Ost- und Westflügel zerbrochenen Geschichte konstruiert worden. „Wehe dem, der Symbole sieht“, schrieb Samuel Beckett. Eine Warnung, die man bei der Lektüre dieses Buches unbedingt beherzigen sollte. Denn wer sein Augenmerk zu sehr auf die Symbolsprache der Geschichte richtet, hat bald nur noch wenig Freude an ihr. Zu absehbar ist, was da erzählt wird: Der Stammvater der Familie, ein Bildhauer und Kraftmensch, ist zu Mitgefühl für andere nicht recht begabt. Mit der Schrotflinte erschießt er Maulwürfe oder Spatzen und legt auch schon mal auf den Schwiegersohn in spe an. Er ist definitiv kein Sympathieträger – und dass er sowohl im Dritten Reich wie auch danach den Mächtigen mit Propaganda-Plastiken zu Diensten ist, passt da fabelhaft ins Bild. Zum Standardrepertoire solcher deutschen Familienromane gehört, dass irgendwann ein neugieriger Nachgeborener die Schuld des Patriarchen aufdeckt und daraufhin das Lügengebäude seiner Sippschaft – wie Pauls Haus – in sich zusammenbricht. Doch es wäre nicht fair, Rinkes Roman allein auf seine vorhersehbare Handlungsstruktur zu reduzieren. Das Besondere und Sympathische an seiner Geschichte sind die liebevoll ausgemalten Details und die große Zahl origineller Charaktere, die sie bevölkern. Rinke hat seine Gabe, eigenwillige Figuren zu entwerfen, in seinen Stücken schon häufig unter Beweis gestellt. Paul zum Beispiel, der die Sünden seiner Familie ans Tageslicht bringt, ist alles andere als ein entschlossener Aufklärer. Im Gegenteil, er tut oft genug sein Bestes, die Indizien für die üblen Geheimnisse seiner Familie, kaum dass sie aufgetaucht sind, gleich wieder verschwinden zu lassen. Doch ist er nicht gerade eine Intelligenzbestie und betreibt seine Vertuschungsversuche derart tölpelhaft, dass sie für seine Familie letztlich nichts besser, aber so manches schlechter machen. Diesen simplizissimushaften Helden hat Rinke mit einer farbenfrohen Schar von Nebenfiguren umstellt. Da ist zum Beispiel Nullkück, ein Großonkel Pauls, der als geistig behindert gilt, Trecker fährt wie der Teufel und eigentümlich poetische Liebensbriefe an die Jungbäuerinnen in der Nachbarschaft schreibt. Oder der Zeithistoriker Anton Rudolph mit sozialistischen Überzeugungen, der steif und fest behauptet, Rudi Dutschke haben seine Schuhe getragen, als 1968 das Attentat auf ihn verübt wurde. Oder der gescheiterte Maler Ohlrogge, der seit Jahrzehnten nicht darüber hinwegkommt, dass Pauls Mutter ihn verlassen hat, nur bei Regenwetter das örtliche Bordell besucht und noch immer Rachepläne gegen Pauls Großvater schmiedet. Beide, sowohl Paul als auch Ohlrogge ahnen schließlich, was sich der Großvater sowohl politisch wie auch innerfamiliär zu Schulden kommen ließ, doch zu ihrer Verblüffung interessiert sich inzwischen fast niemand mehr für dessen Verfehlungen. Dass sich manche der Worpsweder Künstler, allen voran der Mitbegründer der Künstlerkolonie Fritz Mackensen, allzu tief auf die Nazi-Ideologie eingelassen hatten, ist längst weithin bekannt und wird nur noch mit Schulterzucken quittiert. Ihre Werke sind in Worpswede kein Anlass mehr für öffentliche Debatten, sondern Attraktionen für den Fremdenverkehr, die das Geschäft mit den Kultur-Touristen beleben. Warum also herumwühlen in den finsteren Winkeln mancher Künstler-Biographie? Mitunter wirkt der Roman wie eine Parodie auf die deutsche Literatur der Vergangenheitsbewältigung. Was nicht heißen soll, dass sich Rinke über die entsprechenden Vorbilder lustig macht. Er demonstriert vielmehr, in welchem Maße deren Erzählmuster mittlerweile zu Klischees geworden sind. Das ist streckenweise durchaus amüsant, insgesamt aber hinterlässt das Buch einen gespaltenen Eindruck. Denn das familiäre Verbrechen, das sich Pauls Großvater zuschulden kommen ließ, ist von solcher Bestialität und findet noch dazu in dem liebenswert skurrilen Nullkück ein zweites spätes Opfer, dass sich nur wenig unbeschwertes Vergnügen an der komischen Seite der Geschichte einstellen kann.
Die Rezension erschien in der „Welt“ vom 27. Februar 2010
Moritz Rinke: „Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel“. Roman Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010 482 Seiten, 19,95 € ISDN 978-3-462-04190-3