Ein Kommentar
Die fabelhafte Affäre um Helene Hegemanns „Axolotl Roadkill“ treibt immer neue, immer skurrilere Blüten. Es gibt kaum noch eine Hemmschwelle die nicht überschritten, kaum noch eine intellektuelle Latte, die so niedrig läge, dass sie nicht doch in irgendeinem Debattenbeitrag gerissen würde. Nehmen wir zum Beispiel den Lyriker und Büchnerpreisträger Durs Grünbein: In einem Artikel für die Frankfurter Allgemeine Zeitung unter dem in doppelte Anführungszeichen gestellten Titel ““Plagiat““ hat er sich jetzt für Helene Hegemanns Roman begeistert: „Wo immer man die Seiten aufschlägt, tragen sie den Schein einer Schönheit, die ohne Makel, und die Gesetzmäßigkeit einer Szene, die die volle und krasse Echtheit ist.“ Keine Überraschung, wenn Grünbein von dem Vorwurf, Helene Hegemann hätte Teile ihres Buches von anderen Autoren abgeschrieben, nichts hören will. Begriffe wie Plagiat wischt er beiseite: „Man sollte also nicht diese Begriffe an das Buch, sondern dies Buch an jene Begriffe anlegen und, wenn sie sich als albern oder langweilig herausstellen, sollte man sie abbauen oder übergehen. Begriffe wie Menschen, alles was nicht fühlt, dass dieses Buch jenseits der Nachprüfung steht und aller literarischen Intellektualismen“. Wer diese Sätze genau liest, erkennt, durch welche trüben Bezirke der Intellektuellenfeindschaft und des ästhetischen Irrationalismus Grünbein hier stapft: Nicht nur Begriffe, auch Menschen sollen „abgebaut“ werden, wenn sie nicht wie Grünbein fühlen, dass Helene Hegemanns Roman „jenseits der Nachprüfung steht“. Es ist unmöglich, darin etwas anderes zu sehen als einen fundamentalen Angriff auf jede Literaturwissenschaft und -kritik, zu deren Handwerk es gehört, Begriffe auf Bücher anzuwenden. Selbst die Werke Dantes, Shakespeares oder Goethes wurden und werden auf diese Weise analysiert – davon, dass ihnen das geschadet habe, ist bislang nichts bekannt geworden. Doch Helene Hegemanns Buch steht für Grünbein „jenseits der Nachprüfung“. Kann es sein, dass ein Schriftsteller hier einen doktrinären Zug seines Denkens offenbart, der in letzter Konsequenz tatsächlich darauf zielt, Menschen „abzubauen“, die nicht so fühlen, wie er fühlt?
Der Kommentar erschien in der „Welt“ vom 24. Februar 2010