DeLillos Roman „Omega Punkt“ erzählt von der Wüste, den Vorbereitungen zum Irak-Krieg und dem Verschwinden der Zeit
Literatur wirkt, falls sie wirkt, in der Öffentlichkeit. Also hat sie, zumindest potentiell, eine politische Dimension. Doch mit welcher politischen Botschaft kann sich ein Schriftsteller an die Öffentlichkeit wenden, wenn er weiß, dass es keine letztgültigen, unbezweifelbaren Gewissheiten mehr gibt und also auch er über solche Gewissheiten nicht verfügt? Der amerikanische Romancier Don DeLillo gehört zu den großen politischen Schriftstellern unserer Zeit. In „White Noise“, einem sehr komischen, sehr verzweifelten Familienroman, erzählte er von einer Umweltkatastrophe. In „Libra“ vom Mord an John F. Kennedy und dem Gespinst von Verschwörungstheorien, das ihn umgibt. In „Mao II“ vom Einfluss des Terrorismus auf das Gefüge der Weltpolitik zehn Jahre bevor die Flugzeuge ins World Trade Center einschlugen. Jedes dieser Bücher ist zweifellos politisch, doch in keinem findet sich eine handliche politische Botschaft. Auch wenn der Bürger DeLillo gelegentlich dezidierte politische Ansichten vertritt, ist der Schriftsteller DeLillo kein Propagandist irgendeiner politischen Partei oder Idee. In seinen Romanen herrscht eine Atmosphäre der allgegenwärtigen Verunsicherung, des Argwohns und des Verdachts und vielleicht darf man darin das deutlichste politische Bekenntnis dieses Autors sehen. Kritiker in den USA erklärten ihn zum „Chef-Schamanen“ einer „school of paranoid fiction“ und nannten ihn den Lieblingsalbtraum Amerikas. Dass DeLillo irgendwann den Krieg im Irak und den Propagandafeldzug, mit dem Bush ihn vorbereiten ließ, zu Thema eines Büches machen würde, war zu erwarten. Mit „Omega Punkt“ liegt dieser Roman nun vor. Es ist eine kurze Geschichte mit Rahmenhandlung und nur drei Figuren. Die Rahmenhandlung erzählt von der Videoinstallation des schottischen Künstlers Douglas Gordon, die 2006 im New Yorker Museum of Modern Art zu sehen war: Gordon zeigte Alfred Hitchcocks „Psycho“ in einer extremen Zeitlupe, die den Film auf eine Länge von 24 Stunden dehnte und projizierte ihn auf eine durchscheinende Leinwand, so dass die Betrachter die Wahl zwischen den Originaleinstellungen oder deren Spiegelbild hatten. Im Roman beobachtet ein namenloser Museumsbesucher zwei Männer, die Gordons Installation betrachten. Der eine ist über siebzig, mit Stock und langen weißen Haaren, der andere Mitte dreißig, mit Freizeithemd, Jeans und Jogging-Schuhen. In Interviews hat DeLillo davon berichtet, wie er zunächst allein aus Begeisterung über Gordons Installation zu schreiben begann und schließlich begriff, dass er in den beiden Männern, denen er dort begegnet war, die Hauptpersonen seines nächsten Romans gefunden hatte. Den Älteren taufte er Richard Elster: ein Literaturkenner und Universitätsdozent, der unter George W. Bush in einem Team mitarbeitete, das für eine öffentliche Rechtfertigung des Angriffs auf den Irak sorgen sollte. Den jüngeren Mann nannte er Jim Finley: ein Experimentalfilmer, der Elster zu einem langen, ungeschnittenen Interview vor der Kamera überreden will, in dem er völlig subjektiv über seine Arbeit für Bush und das Pentagon berichten kann. Elster lehnt das Angebot ab, er hat keine Lust auf eine öffentliche Beichte. Allerdings lädt er Finley ein, ihn in eine abgelegene Hütte irgendwo in der kalifornischen Wüste zu begleiten, in die er sich gelegentlich zum Nachdenken zurückzieht. Um Elster doch noch für das Filminterview zu gewinnen, sagt Finley zu und bleibt über Wochen bei Elster – nicht zuletzt weil dessen Tochter Jessica ihren Vater besucht. Sie ist schweigsam und zurückhaltend, doch gelegentlich scheint sie mit Finley zu flirten und er mit ihr. Als die beiden Männer irgendwann aus einer abgelegenen Siedlung vom Einkaufen zurückkehren, ist Jessica verschwunden. Elster begreift sofort die immense Gefahr für seine Tochter, die Wüste ist mörderisch. Umgehend verständigt er Polizei, doch seine Tochter bleibt unauffindbar. Das intellektuelle Zentrum des Romans sind die Gespräche zwischen Elster und Finley. DeLillo geht dabei sehr behutsam vor, weder stilisiert er Elster zu einem beinharten Neocon und Bush-Gefolgsmann, noch Finley zu einem fanatischen Bush-Gegner und Pazifisten. „Eine Großmacht muss handeln“, rechtfertigt Elster sein Engagement fürs Pentagon nach den Anschlägen vom 11. September: „Wir wurden schwer getroffen. Wir müssen uns die Zukunft zurückholen. Die Willenskraft, das pure instinktive Bedürfnis. Wir können nicht andere unsere Welt und unser Denken gestalten lassen.“ Finley widerspricht ihm nicht, versucht nicht ihn zu überzeugen oder moralisch zu verurteilen, sondern denkt nur darüber nach, wie er Elster dazu bekommen kann, solche Sätze auch in die Kamera zu sprechen, um die zu dokumentieren. Beide Figuren sind typische DeLillo-Geschöpfe. Finley wirkt mitunter wie ein ironisches Selbstporträt DeLillos: Ein Beobachter, der sich im Grunde mehr für atmosphärische Details interessiert als für seinen Helden, also mehr für die Wand, vor der er Elster zum Reden bringen möchte („überwiegend blassgrau, paar Risse, paar Flecken“), als für das, was er sagen wird. Elster wiederum, der wie DeLillo nicht mehr an verbindliche Wahrheiten, sondern nun noch an mehr oder minder glaubwürdige Entwürfe von Wahrheiten zu glauben vermag, beschreibt es als intellektuell reizvolle Herausforderung, den Irak zu einer mit Massenvernichtungsmitteln bis an die Zähne bewaffnete Weltbedrohung zu stilisieren: „Wir entwarfen Konstruktionen jenseits der vereinbarten Grenzen von Wiedererkennbarkeit oder Interpretation. Es braucht Lügen. Der Staat muss lügen. Es gibt keine Lüge im Krieg oder in der Kriegsvorbereitung, die sich nicht verteidigen ließe.“ Bemerkenswert daran ist nicht, dass DeLillo der Bush-Administration noch einmal ihre Manipulationen zu Beginn des Irak-Kriegs vorhält, sondern dass er in diesen Manipulationen Element einer Weltsicht entdeckt, die er selbst teilt. Finley ist in dem Alter, in dem DeLillo seinen ersten Roman veröffentlichte, Elster exakt so alt, wie DeLillo heute. Beide verkörpern Spielarten des ambivalenten Wunsches, mit schriftstellerischen und intellektuellen Mitteln Weltbilder zu entwerfen, deren Ausstrahlungskraft sich die Wirklichkeit nicht entziehen kann. Zugleich zielt der Roman aber auch auf den religiösen Aspekt, der Bushs weltpolitischem Sendungsbewusstsein beigemischt war. Elster zieht sich in die Wüste zurück wie ein Eremit, der Hektik und Verführungen der Zivilisation hinter sich lässt, um über das Schicksal der Menschheit nicht mehr in kurzfristigen politischen, sondern in erdgeschichtlichen Dimensionen zu meditieren. Er schwärmt Finley vor von den Thesen Pierre Teilhard de Chardins (1881 – 1955), des französischen Jesuiten, Paläontologen und Philosophen, der nach seinem Tod, vor allem als Gegengewicht zum aufklärungsfixierten Denken der Studentenbewegung, eine gewisse Popularität errang. Auch hier zeigt sich wieder, wie gern und geschickt DeLillo mit Ambivalenzen spielt. Teilhard, der oft mit naturwissenschaftlichen Begriffen hantierte, ohne immer auf naturwissenschaftliche Methoden zurückzugreifen, vertrat eine Art modernen Pantheismus: In einem kühnen Analogieschluss zur biologischen Evolution sah er das menschliche Bewusstsein zu immer höherer Komplexität anwachsen und schließlich zu einem überpersönlichen, allumfassenden Bewusstheit jenseits von Zeit und Raum zusammenschießen: zum gottgleichen Punkt Omega. Auch Elster hängt solchen Spekulationen nach, doch färbt sich die Vision bei ihm apokalyptisch ein: „Pater Teilhard kannte das, der Omega Punkt. Ein Sprung aus unserer Biologie hinaus. Stellen Sie sich mal die Frage. Müssen wir immer menschlich bleiben? Das Bewusstsein hat sich erschöpft. Zurück zu anorganischer Materie, na los. Das wollen wir. Wir wollen Steine auf dem Feld sein.“ Im Zentrum der Romane DeLillos stand immer der Versuch, der Bewusstseinslage seines Landes auf der Spur zu bleiben, ja ihr vielleicht sogar einen Schritt voraus zu sein. Darf man sein neues Buch in diesem Sinne als Warnung auffassen, das ein überzogenes, religiös unterfüttertes Sendungsbewusstsein im Falle seines Scheiterns leicht in apokalyptische Stimmungen, in Zerstörungs- und Selbstzerstörungssehnsüchte umschlagen kann? DeLillo lässt seinen Helden allerdings nicht in gemütvoller Resignation verharren. Lange genießt Elster es, dass sich in seiner selbst gewählten Wüsteneinsamkeit die Zeit – wie durch Douglas Gordons „Psycho“-Installation – zu verlangsamen, zu dehnen und schließlich zu verflüchtigen scheint. Doch auch hier erweist sich DeLillo als Meister der Ambivalenz. Denn mit dem rätselhaften Verschwinden von Elsters Tochter beginnt, darüber ist sich Elster klar, gerade in der Wüste die Zeit zu rasen, denn in dieser lebensfeindlichen Umgebung sind allen Versuchen die junge Frau zu retten, knappe Fristen gesetzt. „Omega Punkt“ ist ein Kammerspiel. Das mag angesichts der endlosen Wüstenlandschaft, in der DeLillo seine Geschichte angesiedelt hat, paradox klingen. Doch so ausgreifend die Themen des Romans auch sind, DeLillo konzentriert sie fast vollständig auf das Gegenüber zweier Figuren. Es ist ein Beweis seines enormen erzählerischen Könnens, dass die Geschichte dennoch nicht abstrakt oder künstlich wirkt. Vielleicht hat er sein altes Lieblingsthema, wie mit Mitteln der Massenkommunikation Realität erschaffen wird, noch nie so konzentriert verfolgt wie hier – und zugleich so direkt auf die politische Gegenwart Amerikas reagiert.
Die Rezension erschien in der „Welt“ vom 20. Februar 2010
Don DeLillo: „Der Omega Punkt“. Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010 111 Seiten, 16,95 € ISBN 978-3-462-04192-7