Die Affäre um Helene Hegemanns „Axolotl Roadkill“ macht ein paar Selbstverständlichkeiten bewusst
Wird die Literaturkritik tatsächlich, wie einige Kommentatoren behaupten, durch die Affäre um Helene Hegemanns in seiner Glaubwürdigkeit erschüttert? Oder bringt der Fall „Axolotl Roadkill“ nicht vielmehr einige Selbstverständlichkeiten unseres Buchbetriebs mit schöner Klarheit ins allgemeine Bewusstsein? Ausgangspunkt der Debatte sind die Plagiatsvorwürfe. Die sind allerdings nicht so überraschend. In jüngster Zeit wurden gerade gegen Beststeller – von Dan Browns „Sakrileg“ bis zu J.R. Rowlings Potter-Zyklus, von Andrea Maria Schenkels „Tannöd“ bis Martin Suters „Lila, lila“ – ähnliche Anschuldigungen erhoben. Offenbar stehen erfolgreiche Bücher in dieser Hinsicht unter besonders strenger Kontrolle. Bislang hielt, zumindest in den Augen der Juristen, keiner dieser Vorwürfe stand. Und die Literaturwissenschaft ist in diese Dingen üblicherweise noch großherziger als die Rechtsprechung. Seit langem schon betrachtet sie auch die Montage oder Anverwandlung fremder Texte als eine genuine schriftstellerische Leistung. Da hätte es Helene Hegemanns Hinweis auf die angeblich brandneue Ästhetik des Samplings gar nicht gebraucht. Dem künstlerischen Ansehen von Brechts „Dreigroschenoper“ hat es nicht geschadet, als Alfred Kerr nachweisen konnte, dass manche Songs darin eher von Villon oder Kipling stammen als von Brecht. Wohl aber schaden solche Übernahmen aus den Büchern anderer Autoren der Illusion von Authentizität. Tatsächlich klangen viele der aufgeregten Kritiken und Porträts, die halfen „Axolotl Roadkill“ auf die Bestsellerliste zu hieven, sehr danach, als würden die Rezensenten das Buch nicht als Fiktion, sondern als Lebensbeichte einer wohlstandsverwahrlosten, süchtigen, von Vater und Mutter verlassenen 17-jährige Rebellin auffassen, die aus Protest gegen eine kaltherzige Erwachsenenwelt Selbstzerstörung betreibt. Doch nüchtern betrachtet entpuppt sich Helene Hegemann mit ihrem halb intellektuellen, halb flapsigen Jargon eben nicht als Rebellin, sondern vielmehr als perfekt integrierte Musterschülerin einer Berliner Boheme, in der ihr Vater Carl Hegemann als langjähriger Dramaturg der Volksbühne keine unwichtige Rolle spielt. Doch wer den Hegemann-Rezensenten nun vorhielte, sie hätten „Axolotl Roadkill“ gleichsam unter falschen Voraussetzungen gerühmt, der wird die meisten von ihnen uneinsichtig finden. Denn zu den unveräußerlichen Grundrechten jedes Literaturkritikers in der Moderne gehört, sich zuallererst für die Sprache eines Schriftstellers zu begeistern, also dafür wie der Autor schreibt, und das was er schreibt – ob nun Beichte oder Roman – zur Nebensache zu erklären. Diese Sprach-Begeisterung ist allerdings weder widerleg- noch beweisbar, sondern streng subjektiv. Wenn also Rezensenten, die Helene Hegemann vor zwei Wochen feierten, nach dem Bekanntwerden der Plagiatsvorwürfe betonen, ihr Jubel habe nicht der vermuteten Authentizität des Buches gegolten, sondern dessen Sprache, dann hat niemand das Recht, an dieser Behauptung zu zweifeln – selbst wenn er das Deutsch in „Axolotl Roadkill“ streckenweise reichlich verquast findet. Geschmäcker sind eben verschieden. Sicher, das Recht jedes Rezensenten, sich von der Prosa dieses Romans betören zu lassen, ist völlig unbenommen. Aber wäre es nicht dennoch an der Zeit zuzugeben, dass auch ein Literaturkritiker irren und ihn sein Gespür für literarische Tonfälle im Stich lassen kann? Schließlich gibt es ein altes Kräftemessen im Literaturbetrieb, das allen Beteiligten längst zur Selbstverständlichkeit geworden ist: Jeder Verlag will seine Bücher ins beste Licht rücken und bemüht sich, nicht zuletzt die Kritiker in diesem Sinne zu manipulieren. Die Kritiker wiederum wissen, dass die Verlage sie mit mal plumpen, mal raffinierten Tricks für ihre Bücher einzuspannen versuchen. Meist sind diese Tricks für den Kritiker leicht zu durchschauen. Aber er müsste schon ein sehr ausgeprägtes Selbstbewusstsein haben, wollte er behaupten, noch nie einer geschickt inszenierten Verlagskampagne aufgesessen zu sein. Ein Stereotyp, auf das Schriftsteller von Verlagen und Agenten zu Anfang ihrer Karriere gern hingetrimmt und kampagnentauglich gemacht werden, ist der Zornige Junge Mann – oder wahlweise die Zornige Junge Frau. Dieses Rollenmuster hat gerade in der deutschen Literatur tiefe Wurzeln und reicht bis zum Expressionismus und zum Sturm und Drang zurück: hoch begabte Stellvertreter einer jungen Generation, die bis zur Selbstvernichtung gegen eine in ihren Augen moralisch verkommene, politisch verhärtete Erwachsenenwelt aufbegehren. Da bestehende Lebensverhältnisse naturgemäß immer verbesserungsbedürftig sind, trifft diese Haltung jederzeit auf eine gewisse Sympathie – zumal im etablierten Kulturbetrieb, der sein schlechtes Gewissen über die eigene Etabliertheit gern damit betäubt, rebellische Naturen zu bejubeln. Wie heißt es bei Brecht? „Mögen andere von ihrer Schande sprechen, ich spreche von der meinen“. Einer der typischen Zornigen Jungen Männer der Gegenwartsliteratur war Rainald Goetz. Ich habe seinerzeit seinen Roman „Kontrolliert“ in hohen Tönen gelobt. Inzwischen bedeutet mir das Buch literarisch lange nicht mehr so viel wie damals: Ich fürchte, ich habe zu einem Gutteil das Image von Goetz rezensiert, nicht seinen Roman. Ob es einigen der Hegemann-Rezensenten ähnlich ging? Falls ja, wäre das keine Katastrophe für die Glaubwürdigkeit unserer Literaturkritik, sondern schlicht menschlich. Da selbst Ärzten, Anwälten oder Apothekern Kunstfehler unterlaufen, wäre es doch seltsam, wenn ausgerechnet Literaturkritiker immer richtig lägen. Glaubwürdigkeit gewinnt die Kritik nicht durch die Behauptung, unfehlbar zu sein, sondern durch das ständige Bemühen darum, keine Fehler zu machen. Auch wenn es gelegentlich mal nicht gelingt.
Der Artikel erschien in der „Welt“ vom 17. Februar 2010
Helene Hegemann: „Axolotl Roadkill“. Roman Ullstein Verlag, Berlin 2010 204 Seiten, 14,95 € ISBN 978-3-550-08792-9