Wolfgang Ullrich Essay „Raffinierte Kunst“
Jeder Berufsstand neigt dazu, seinen Mitgliedern und ihrer Arbeit größte Bedeutung beizumessen. Eine etwas unreflektierte, aber verständliche Selbstüberschätzung. Doch wenige Berufsgruppen dürften bei der eigenen Aufwertung so erfolgreich gewesen sein wie die Künstler. Über Jahrhunderte hinweg galten sie als bessere Handwerker, die mit mehr oder minder großem Geschick Auftragsarbeiten auszuführen hatten. Erst seit der Renaissance begannen sie sich zunächst zögerlich, mit Anbruch der Moderne dann immer radikaler von allen Ansprüchen zu emanzipieren, die an sie hätten herangetragen werden können. Die Kunsttheorie hat sie dabei lange nach Kräften unterstützt. Der Kult ums Genie, das keinen Regeln folgt, sondern – wie Kant schreibt – „der Kunst die Regel gibt“ wurde zur Selbstverständlichkeit, ja zur Norm. Wolfgang Ullrich, Professor für Kunstwissenschaft und Medientheorie in Karlsruhe, ist einer der hellsten und originellsten Köpfe, die sich gegenwärtig hierzulande der Kunsttheorie widmen. In mehreren Studien ging Ullrich der Frage nach, welchen Folgen diese schier grenzenlose Aufwertung und Befreiung der Kunst für die Kunst selbst hat. „Tiefer hängen“ ist der Titel eines seiner Bücher und zugleich wohl als Ratschlag zu verstehen angesichts der Glorifizierungsbereitschaft, die den Kunstbetrieb inzwischen prägt. In seinem neuen Essay „Raffinierte Kunst“ geht Ullrich der Bedeutung von Reproduktionen für Kunstwerke und Künstler nach. Bis zur Erfindung der Fotografie im 19. Jahrhunderts verdankten sogar die beliebtesten Gemälde oder Plastiken einen erheblichen Teil ihres Ruhmes den Kupferstichen oder Abgüssen, die beim kunstinteressierten Publikum kursierten – also Reproduktionen, die keineswegs in allen Details dem Original entsprachen. Solche Abweichungen wurden nicht zwangsläufig als Schwächen betrachtet, sondern oft genug als lehrreiche Varianten der zugrunde liegenden Kompositionsidee und ihrer Ausführung. Viele Künstler gingen enge Kooperationen mit Kupferstechern ein, da ihre Werke in Zeiten, in denen Reisen seltene Abenteuer waren, fast ausschließlich durch Stiche über das enge Lebensumfeld hinaus eine gewisse Bekanntheit erwerben konnten. Doch fühlten sich die Kupferstecher nicht zur sklavischen Nachschöpfung der Originale verpflichtet, sondern beanspruchten mitunter gewisse Freiheiten, um der jeweiligen Bildidee mit ihren Mitteln zu verstärktem, verfeinertem, noch raffinierterem Ausdruck zu verhelfen. Die besten von ihnen wurden von den Künstlern deshalb als Gesprächspartner und Kommentatoren hoch geschätzt, schreibt Ullrich: „Die Arbeit vieler Künstler fand also in Auseinandersetzung mit den Interpretationen ihrer Entwürfe statt; sie wurden dadurch kontrolliert und hatten auf Fragen zu antworten, die sich durch die Reproduktionsgrafik stellten.“ Aber auch die Kunstkenner hatten damals eine andere Position. Da von wichtigen Werken zumeist verschiedene Stiche im Umlauf und die Originale selten erreichbar waren, blieb ihnen ein Interpretations- und Ermessensspielraum: Sie waren in ihrer Vorstellungskraft und ihrem Geschmacksurteil gefordert, welche der Reproduktionen ihrem Empfinden nach die höchste ästhetische Ausstrahlungskraft entfaltete. Der Betrachter wurde so in eine aktivere Rolle versetzt: Da er das Werk in verschiedenen Kopie-Varianten vor Augen bekam, war er implizit immer dazu aufgefordert, das Gesehene nicht gläubig hinzunehmen, sondern es kritisch prüfend und abwägend seinem Urteil zu unterwerfen. Mit der Moderne und vor allem mit der Erfindung der Fotografie als Reproduktionsmedium ändert sich dieses Verhältnis gründlich. Die Fotografie macht alle bedeutenden Kunstwerke im Laufe des 20. Jahrhunderts fast überall zugänglich. Allerdings ist das Foto keine Interpretation des Werkes mehr, wie es der Stich war, sondern ein Abklatsch, und macht das Original so zur einzig gültigen Norm. Das Original wird zum Fetisch und seine Betrachtung im Museum zum kunstreligiösen Hochamt, das auf die Überwältigung der ehrfürchtigen Besucher zielt. Sobald sich, schreibt Wolfgang Ullrich, mit dem Kupferstecher zwischen Künstler und Publikum ein Interpret schiebt, entwickelt sich „ein Sinn für Differenzen und damit ein Pool an Kriterien, eine reich nuancierte Sprache. Das Reproduktionswesen wird dann zu besten Schule des Geschmacks.“ Aber seit wir mit den Originalen und ihren fotografischen Abbildern allein bleiben, „hat der Diskurs gerade über Malerei eine entscheidende Dimension verloren: Vorbilder, die nicht übersetzt werden, nimmt man einfach hin.“ Die Genieästhetik, die alles vom Künstler und vom Original erwartet, hat die Kunst auf diese Weise sicher ärmer und weniger raffiniert werden lassen.
Die Rezension erschien in der „Welt“ vom 2. Januar 2010
Wolfgang Ullrich: „Raffinierte Kunst“. Übung vor Reproduktionen Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2009 156 Seiten, 22,90 Euro. ISBN 978 5 8031 5178 0