Er schreibt viel – und wirft fast alles wieder weg. Jetzt erfindet Sten Nadolny sein Leben in seinem Roman „Weitlings Sommerfrische“ neu. Obwohl er glaubt: »Es hat keinen Sinn, sich als Tiger zu träumen, wenn man Ziege ist«
Uwe Wittstock: Sie werden im Sommer 70. Hätten Sie gern ein anderes Leben gelebt? Sten Nadolny: Wie kommen Sie denn auf die Idee?
Wittstock: Der Held Ihres neuen Romans „Weitlings Sommerfrische“ lebt fast haargenau Ihr Leben, ist aber zunächst Richter. Wären Sie lieber Jurist geworden?
Sten Nadolny: Auf gar keinen Fall. Ich habe nur eine einzige Biografie – wie im Allgemeinen üblich – und habe sie gern durchlebt. Was ich an meinem Schriftstellerleben besonders schätze, ist, dass darin der Konjunktiv eine große Rolle spielt, also Vorstellungen darüber, was könnte geschehen oder hätte geschehen können. Oder auch: Was wäre, wenn ich im Alter noch einmal mir selbst als 16-Jährigem begegnete. Wittstock: Ihrem Alter Ego Weitling geschieht das im Roman: In rüstigem Alter kann er sich selbst als Jugendlichen beobachten. Doch der junge Weitling macht manches anders, als es der alte in Erinnerung hat. Steckt dahinter nicht doch Ihre heimliche Sehnsucht, ein anderes, vielleicht wilderes Leben zu leben?
Sten Nadolny: Das steckt nicht drin. Dazu kenne ich mich und meine Grenzen zu gut. Es hat keinen Sinn, sich als Tiger zu träumen, wenn man Ziege ist. Für meinen Roman hat mich interessiert: Wie verändert sich ein Leben, wenn in der Jugend ein oder zwei Weichen anders gestellt werden. Wenn zum Beispiel nicht der Vater früh stirbt, sondern die Mutter. Ich wollte ja zunächst nicht Schriftsteller werden. Denn Vater und Mutter schrieben Romane, und ich erlebte mit, wie dornenreich diese Arbeit sein kann. Was hat mich dann doch dazu gebracht? Um so etwas zu ergründen, wäre es nützlich, sich selbst als jungem Mann über die Schulter zu schauen. Der Roman ist, wenn Sie so wollen, eine Autobiografie im Konjunktiv, teilweise jedenfalls.
Wittstock: Berühmt wurden Sie 1983 mit Ihrem Roman „Entdeckung der Langsamkeit“. Vor „Weitlings Sommerfrische“ haben Sie neun Jahre lang keinen Roman veröffentlicht. Sind Sie ein langsamer Schriftsteller?
Sten Nadolny: Ich schreibe schnell und viel, werfe dann aber fast alles wieder weg. Mit dieser Arbeitsweise bin ich glücklich. Ich kann gut grausam zu mir sein, auch mehrfach pro Tag.
Wittstock: Hätten Sie das Ergebnis gern schneller?
Sten Nadolny: Warum sollte ich? Ich mache meine Arbeit doch gern. Auch Manuskripte, die ich wegschmeiße, haben mir ja Spaß gemacht: Ich sitze, überlege, schreibe, mache mir beim Spazieren Gedanken über mein Buch, schreibe erste Fassungen und werfe sie dann in den Papierkorb. Beides macht Freude: wenn etwas fertig und gut wird, aber auch wenn ich mich durch einen kühnen Wurf in den Abfalleimer von ihm befreie. Wo wäre der Vorteil, wenn das alles schneller ginge? Was machte ich mit der gesparten Zeit? Dinge tun, die ich nicht mag? Da schreibe ich lieber und werfe weg.
Wittstock: Sind Sie ein eigensinniger Mensch?
Sten Nadolny: Das sollen andere beurteilen. Aber ich mag eigensinnige Menschen. Man hat einfach mehr von denen, die einen eigenen Sinn haben. Ich liebe Leute, die nicht sagen, was man von ihnen hören will, sondern was sie mit eigenen Sinnen für richtig halten.
Das Gespräch mit Sten Nadolny erschien im „Focus“ vom 14. Mai 2012
Sten Nadolny: Weitlings Sommerfrische. Roman. Piper Verlag, München 2012 16,99 Euro ISBN: 978-3492054508