Martin Walsers Roman „Angstblüte“
Wie gern hätte ich diesen neuen Roman von Martin Walser gelobt. Denn erstens ist seit seiner Friedenspreisrede und der knalldummen Schwarte „Tod eines Kritikers“ die öffentliche Generalabrechnungen mit Walser fast schon zu so etwas wie einem festen Genre der Literaturkritik geworden. Da wäre es natürlich viel lustiger und origineller, zu einer Hymne auf sein neues Buch auszuholen, und es allen mal wieder so richtig zu zeigen, was für Mordsautor dieser Walser doch ist. Zweitens feiert Walser im kommenden Jahr fünfzigjähriges Romanjubiläum. Sein erster Roman „Ehen in Philippsburg“ erschien 1957, also vor bald einem halben Jahrhundert. Seither hat Walser, falls ich richtig gezählt habe, den geneigten Lesern 19 weitere Romane in die Regale geräumt und ist damit längst zu einem unvermeidlichen Teil der deutschen Literaturgeschichte geworden. Welchen Sinn hat es da, an den Schwächen des jüngsten Produkts auf dem Fließband herumzunörgeln? Wäre es nicht schöner, dessen Stärken herauszustreichen und alles andere den Lesern zu überlassen, die ja inzwischen die eingeführte Marke Walser bestens kennen? Doch, es geht nicht. Natürlich hat dieser neue Roman „Angstblüte“ auch starke Momente, natürlich kann man einige hübsche Beobachtungen, kluge Gedanken und bemerkenswerte Sätze daraus zitieren. Und natürlich könnte man versuchen, ihn angemessen einzuordnen in Walsers Gesamtwerk (also irgendwo zwischen den Romanen „Jagd“ und „Ohne einander“) und ansonsten in noblen Zwischentönen anklingen lassen, daß man das Buch nicht eben für ein Meisterwerk hält. Damit wäre man als Kritiker fein raus – und zugleich schreiend ungerecht anderen Autoren gegenüber, die nicht den jahrzehntelang gepäppelten Nimbus Walsers genießen, und deren Romane oft an strengeren Maßstäben gemessen werden als seine. Nein, um es gleich offen zu sagen, ich halte „Angstblüte“ für einen rasend öden, über weite Strecken kolportagehaften, nachlässig zusammengestoppelten Prosaflickenteppich ohne Form und Charme. Sicher, es wäre ungerecht, einem Schriftsteller vorwerfen zu wollen, daß er zeitlebens immer aufs Neue den gleichen Roman schreibt. Viele Schriftsteller haben ein sehr begrenztes Themen-Repertoire und letztlich kommt es darauf an, wie viel Geschick sie von Buch zu Buch darauf verwenden, neue, überraschende Kostüme zu entwerfen, in die sie dann ihre alten Lieblingsmotive hüllen. Walser jedoch gibt sich in dieser Hinsicht provozierend wenig Mühe. Die Lieblosigkeit mit der er das immer gleiche Kasperletheater vor den Lesern aufbaut und den gleichen Kasper mit der gleichen Klatsche auf die gleichen Krokodile einprügeln und seine Gretel auf gleiche Weise betrügen läßt, zeugt von einem wahrhaft ernüchternder Mangel an künstlerischem Ehrgeiz. Diesmal heißt der Kasper Karl von Kahn und ist Anlageberater in München. Auch dieser Held Walsers ergeht sich, wie schon die lange Reihe seiner Vorgänger, in ausgedehnten Reden über die Banalität der Konkurrenzprinzips, auch er behauptet, sich nach Niederlagen zu sehnen, auch er spricht davon, daß sich in seiner Seele charakterliche Gegensätze nicht ausschließen, sondern einträchtig nebeneinander existieren. Und wieder wird er konfrontiert mit einer Gegenfigur, diesmal Diego genannt, die keine Selbstzweifel kennt, scheinbar von Sieg zu Sieg eilt, heimlich aber Mißerfolge einsteckt. Und wieder ist der Held verheiratet, beteuert seine Frau zu lieben und geht vor allem mit anderen Frauen ins Bett, denn, so das Fazit seiner Lebensphilosophie: „Alle, die er getroffen hat, haben nichts betrieben als die Optimierung des Geschlechtsverkehrs“. Tatsächlich wäre es ja reizvoll zu erfahren, wie Walsers ewig gleicher Held, der ja angeblich von antikapitalistischen Niederlagesehnsüchten getrieben wird, sich im turbokapitalistischen Milieu der Anlageberater, mithin in der Höhle des Löwen, so durchschlägt. Doch über das spezifische Klima dieses Milieus, über seine typischen Umgangsformen und Tonlagen, seine Riten und Regeln erfährt man bei Walser nahezu nichts. Er speist die Leser mit ein paar Allerweltskenntnissen über die Großinvestoren Warren Buffet und George Soros ab, ergänzt sie um ein paar klischeestrotzende Bemerkungen über Nadelstreifenanzüge, Krawatten und Büroeinrichtung und damit hat sich für ihn der Fall. Das ist nicht neu. Über Walsers Unfähigkeit, seiner Prosa sinnliche Qualitäten zu geben, wird seit Jahrzehnten geklagt. Er ist ein begnadeter Redner, der seinen Zuhörern mit einer Tsunami von Worten noch die absurdesten Ideen verkaufen kann – nicht zufällig sind seine Helden Vertreter wie Anselm Kristlein, Makler wie Gottlieb Zürn oder eben Anlageberater wie Karl von Kahn. Aber es ist ihm nie möglich gewesen, anschaulich zu erzählen, also die besondere Atmosphäre einer Stadt auf dem Papier einzufangen oder eine Figur so plastisch zu schildern, daß sie in der Phantasie des Lesers zu eigenem Leben erwacht. Peter Handke hat einst seine legendäre Diagnose „Beschreibungsimpotenz“ gegen alle Autoren der Gruppe 47 gerichtet, aber damit am genauesten Walsers Prosa getroffen. Und diese Schwäche scheint mir mit zunehmendem Alter des Autors nicht ab-, sondern noch zuzunehmen. Auch über Walsers Unvermögen, seinen Romanen eine tragfähige, ästhetisch plausible Form zu geben, ist schon viel geschrieben worden. Sein neues Buch „Angstblüte“ hat er organisiert nach dem Ordnungsprinzip eines Schaschlikspießes: Karl ist die Zentralfigur, die Achse, die alles zusammenhalten soll, und an ihr entlang werden abgehackte, beziehungslose Handlungsbrocken nebeneinander aufgereiht. Zu Anfang wird das Ende der Freundschaft zwischen Karl und Diego verhandelt – das Ähnlichkeiten mit dem Ende der Freundschaft zwischen Walser und Siegfried Unseld aufweist. Dann wird, weil Diegos Frau Gundi Fernsehmoderatorin ist, eine Art Mediensatire eingeschoben. Darauf folgen unter anderem: ein Seitenblick ins Leben von Karls Bruder Erewein, der sich bei Kriegsende erst drei russischen Soldaten ergeben, sie dann aber erschossen hat; Ausführungen von Karls Frau Helen zur Traumdeutung im Rahmen der Ehetherapie; Verhandlungen mit einem Fassbinderhaften Regisseur über Investitionen in ein Filmprojekt; ein weitschweifiger Bericht von Karls neuer Geliebten Joni über ihr bisheriges Liebesleben; endlose Eifersuchtsphantasien, mit denen der gut siebzigjährige Karl die vierzig Jahre jüngere Joni verfolgt; das Drehbuch zum besprochenen Filmprojekt; ein stammtischhaftes Kundengespräch des Anlagespezialisten Karl mit dem Schriftsteller Markus Luzius Barbenberg, der wohl an Hans Magnus Enzensberger erinnern soll – und schließlich ein Finale, das vorgibt, die meisten der lose in dem Buch herumschlackernden Erzählfäden zusammenzuraffen. Natürlich gibt es andere Romane, die formal ähnlich konzipiert sind und die etliche untereinander unverbundene Geschichten wie auf einer Perlschnur hintereinander auffädeln. Doch müßte man die Augen fest zukneifen vor allen Vergleichsgrößen der Gegenwartsliteratur, wollte man Walsers Handlungsbrocken als Perlen bezeichnen. Nehmen wir zum Beispiel seine Mediensatire: Diegos Frau Gundi ist der Star einer Art Personality-Show, zu der sie sich einzelne Gesprächspartner einlädt. Über Seiten hinweg schildert Walser einen ihrer Auftritte und läßt dabei erkennen, daß Gundi die Intimität, die sie zu ihren Zuschauern und ihrem Gast aufzubauen vorgibt, skandalöserweise nur vortäuscht. Doch doch, tatsächlich: Im Fernsehen beruht so manches auf Illusion und Fälschung, Walser hat das entdeckt, und lüftet nun, seinen Lesern dabei eifrig zuzwinkernd, den Schleier über dieser wahrhaft schockierenden Neuigkeit. Wenn man sich vor Augen hält, wie viele weitaus originellere, witzigere und treffsichere Mediensatiren hierzulande Jahr für Jahr publiziert werden, kann man ermessen, wie sehr sich Walser mit seinen platten, unbeholfenen Bemühungen auf diesem Gebiet blamiert. Nein, der Roman „Angstblüte“ ist in meinen Augen nicht zu retten, er ist, rundheraus gesagt, ein künstlerisches Desaster. Nach einer alten, gut eingespielten Tradition unseres Literaturbetriebs müßten sich jetzt – wie Joachim Kaiser einmal schrieb – die Kritiker nicht wie Leser, sondern wie „besorgte Ärzte“ um das neue Buch versammeln, „wie um einen hochinteressanten, diffizilen, bedenklichen Fall“. Denn Walser galt von Beginn seiner Karriere an als einer der klügsten Autoren seiner Generation, der zu den größten Hoffnungen berechtige, dem es bislang nur noch nicht gelungen sei, sein unbestreitbares rhetorisches Können in die rechten Bahnen zu lenken. „Dieser Walser ist ein Genie“, schrieb Friedrich Sieburg 1960, „wenn auch einstweilen nichts dabei herauskommt“. Ebenso Joachim Kaiser: „Bei Walser wird unentwegt Brillanz bestätigt und dann aufs Nächste gehofft.“ Oder Marcel Reich-Ranicki: „Jedermann weiß, daß Martin Walser außerordentlich viel kann. Doch kaum etwas will ihm glücken.“ Oder Reinhard Baumgart: „Ist nicht Martin Walser immer schon eher ein intelligenter und unermüdlicher Sammler von Details gewesen als ein Autor, der nach einem großen Konzept einen großen Roman durchhalten könnte?“ Vielleicht ist es, fünfzig Jahre nach Walsers Romandebüt, an der Zeit, mit einem weiteren Mythos der bundesdeutschen Nachkriegsliteratur Schluß zu machen. Von Wolfgang Koeppen erwartete der Literaturbetrieb jahrzehntelang einen Roman – und Koeppen hat mit Schweigen geantwortet. Auch von Martin Walser erwartet der Betrieb nun seit Jahrzehnten einen Roman – und Walser antwortet alle zwei, drei Jahre mit dicken Papierbündeln voller Worte, Worte, Worte. Doch ein Roman ist dabei noch nicht herausgekommen.
Die Rezension erschien in der „Welt“ vom 22. Juli 2006
Martin Walser: „Angstblüte“. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2006 477 S., 22,90 € ISBN 978-3-498-07357-2