Tanja Dückers erzählt von fünf Kindern und ihrem toten Vater
Paul Kadereit ist gestorben. Er war Tierhändler, 62 Jahre alt und fühlte sich gesund. Im Sommer 2003 hat er trotz tropischer Temperaturen sehr lange in seinem Bienenhaus bei Fürstenfeldbruck gearbeitet und ist dann tot zusammengebrochen. Er hinterläßt eine Frau und fünf erwachsene Kinder. Soweit die Vorgeschichte. In ihrem neuen Roman „Der längste Tag des Jahres“ erzählt Tanja Dückers ausschließlich davon, wie die Kinder Kadereits, zwei Töchter und drei Söhne, die Nachricht vom Tod ihres Vaters aufnehmen. Der Schock über den Verlust wird für jeden von ihnen zum Anlaß, eine Art biographische Bilanz zu ziehen: Sie erinnern sich an ihre frühen, unvermeidlich prägenden Jahre in einem Familienbiotop, aus dem sie dann allmählich heraus- und in die komfortablen oder kümmerlichen Arrangements hineinwuchsen, die sie inzwischen ihr Leben nennen. Dieses Sujet läßt zunächst nicht viel Gutes ahnen. Familienromane, die nach solchem Muster gestrickt sind, neigen sehr zur grimmigen Abrechnung mit dem Vergangenen. Die Roman-Kinder machen den Roman-Eltern dann gern den Prozeß wegen ihrer angeblich oder tatsächlich verpfuschten Jugend. In Amerika wurde das vor nicht allzu langer Zeit zu eine ausufernden literarische Mode. Die Bücher begannen meist damit, daß die Kinder zu einer Beerdigung oder einem Familienfest an den Ort ihre Jugend zurückkehrten und zunächst nur zögernd, dann aber immer radikaler mit den altgewordenen Eltern das Drama ihrer Kindheit verhandelten. Wahlweise entpuppten sich dabei die Mütter im Rückblick als lieblos, kalt und kontrollsüchtig oder die Väter als Unholde, die ihre Frauen ständig betrogen, wenn sie nicht gar den eigenen Töchtern inzestuös nachstellten. Zu den sympathischen Zügen von Tanja Dückers‘ Roman gehört, daß sie sich auf solche effektvollen, aber recht platten Abrechnungs-Klischees nicht einläßt. Sie interessiert sich nicht für spektakuläre Familienkatastrophen, sondern für das gewöhnliche Familiengespinst aus starken Bindungen und kleinen Aversionen, das nicht allein die Eltern weben, sondern an dem auch die Kinder durch ihre Zuwendung und Anteilnahme im positiven Sinne oder eben durch ihre Eifersucht und Rücksichtslosigkeit im negativen Sinne mithäkeln. „Der längste Tag des Jahres“ spürt keiner erdrückenden, von allen Beteiligten ängstlich beschwiegenen Schuld in der Familienvergangenheit nach, sondern den alltäglichen Kompromissen, Sehnsüchten, Reibereien, Egoismen, die das Familienleben letztlich ausmachen. Da ist beispielsweise Sylvia, die in sich gekehrte älteste Kadereit-Tochter. Sie ist so sehr damit beschäftigt, den Ansprüchen anderer gerecht zu werden, daß sie darüber sogar versäumt, vom Tod des Vaters zu berichten, bevor ihr Mann gewohnheitsgemäß auf die Erfüllung der ehelichen Pflichten dringt. Kein Wunder, daß diese aufopferungsvolle Hausfrau und Sekretärin zu ihrem egozentrischen Bruder David, der für das Theater arbeitet und die hohe Schauspielkunst wieder und wieder mit hemmungsloser Selbstdarstellung verwechselt, ein regelrecht feindseliges Verhältnis hat. Anna dagegen ist als Psychotherapeutin mit einer bedenklichen Vorliebe für Astrologie so sehr mit der Analyse von Gefühlen beschäftigt, daß sie darüber nicht selten vergißt, selber welche zu haben. Etwas irritierend erscheint der Umstand, daß Dückers‘ Roman auffällig wenig über Benjamin, den vierten Sproß der Familie verrät. Er wird fast nur aus der Perspektive seiner Freundin geschildert, weshalb man über seine Empfindungen oder Erinnerungen an den Vater kaum etwas erfährt. Thomas, dem jüngsten Kadereit, widmet sich Tanja Dückers dagegen am ausführlichsten. Er war lange der Liebling des Vaters, hat sich dann aber entschieden von der Familie abgesetzt: Bald nach seinem zwanzigsten Geburtstag gab er sein Studium auf und ließ sich nach einer Weltreise in der kalifornischen Wüste nieder. Mit dieser exotischen Ortswahl scheint Tanja Dückers so etwas wie ein beherrschendes Familienschicksal andeuten zu wollen. Denn der Großvater Gustav Kadereit zog seinerzeit als Wehrmachtssoldat mit Rommel in die Wüste und wurde dort erschossen. Vater Paul Kadereit entwickelte in seiner „Zootierhandlung“ eine besondere Leidenschaft für Wüstentiere, für Warane oder Geckos, und er konnte Stunde um Stunde damit verbringen, die Tiere in den Terrarien zu beobachten. Schließlich findet der Enkel Thomas Kadereit in der Wüste so etwas wie seine karge Wahlheimat. Was es allerdings im familienpsychologischen Sinne mit dieser generationsübergreifenden Leidenschaft für wasserarme Zonen auf sich haben könnte, läßt Tanja Dückers weitgehend im Vagen. Die Hauptschwäche des Buches ist jedoch seine Sprache. Tanja Dückers schreibt ein nachlässiges, oft unelegantes, gelegentlich steifes Deutsch. Zudem hat sie eine unglückselige Neigung zu eingeschobenen Nebensätzen und unübersichtlichen Schachtelkonstruktionen. Wenn der Schauspieler David zum Beispiel behauptet, er haben vorausgeahnt, zu welchem Zeitpunkt er eine neue Geliebte finden werde, beschreibt Tanja Dückers das so: „Auch bevor er Ellen kennengelernt hatte, war er einen ganzen langen Sommer, in dem er ohne Engagement dastand und nur im Park gelegen und gelesen hatte, davon überzeugt, Silvester mit einer neuen Liebe feiern zu können.“ Auf diese Weise klingt der Roman in etwa so wie ein Gespräch am Nebentisch, das man in einem Studentencafé belauscht, und in dem Unbekannte die Biographien ihrer Angehörigen durchhecheln. Das ist nicht ohne Reiz. Aber gerade wenn man dabei interessante Familienanekdoten zu hören bekommt, würde man sich das alles gern genauer, disziplinierter, poetischer erzählen lassen.
Tanja Dückers: „Der längste Tag des Jahres“. Roman
Aufbau Verlag, Berlin 2006. 211 S., 18,90 €