„Die Heimkehr“

Bernhard Schlink erzählt von einem bösen Vater und einem Sohn mit Bastelbiographie
Offen gestanden, es fällt mir nicht leicht, diesen Artikel zu schreiben. Denn ich zähle mich zu den Bewunderern Bernhard Schlinks. In seinem großartigen, seinem überragenden Roman „Der Vorleser“ (1995) zeigt er nicht nur die Bedenkenlosigkeit und Bestialität einer KZ-Aufseherin, sondern zugleich auch, was für ein empfindsamer, hilfsbedürftiger, ja liebenswerter Mensch diese Frau jenseits ihrer Verbrechen ist. Es gibt wohl kein Thema, das für einen deutschen Schriftsteller heikler sein könnten als dieses – und Schlink hat daraus ein grandioses Buch gemacht, das sehr zurecht zu einem Welterfolg wurde. Wenn die deutsche Literatur heute nach langer Dürrezeit auf internationaler Bühne wieder mit wachsender Neugier und Zuneigung rechnen kann, ist das nicht zuletzt ein Verdienst dieses Romans. Zudem hat Schlink vier ebenso intelligente wie spannende Kriminalromane geschrieben, hat eine Sammlung lebenskluger Erzählungen vorgelegt und hat kürzlich einen Band mit Essays veröffentlicht, der ihn als hellsichtigen und urteilsicheren Beobachter unserer Zeit ausweist. Doch damit noch nicht genug: Die „Literarische Welt“, die wöchentliche Literaturbeilage dieser Zeitung, hat guten Grund, Schlink dankbar zu sein. Er ist nicht nur der erste Träger des „Welt“-Literaturpreises, sondern er arbeitet seit 2000 in der Jury mit, die diese Auszeichnung vergibt. Und Schlink hielt die Laudatio, als jene Jury Imre Kertész den „Welt“-Literaturpreis zusprach – zwei Jahre bevor Kertész den Literatur-Nobelpreis bekam. Aber aller Bewunderung und Dankbarkeit zum Trotz muß ich bekennen, daß ich Schlinks neuen, lang erwarteten Roman „Die Heimkehr“ für weitgehend mißglückt halte. Schlink hat für das Buch einen sehr komplexen, politisch gewichtigen Stoff gewählt, er hat einen genau durchdachten, unterhaltsamen Plot entwickelt, hat diesen in einer klaren, schnörkellosen Prosa umgesetzt – und ist letztlich doch an seinem Vorhaben gescheitert. Schlink erzählt die Geschichte des vaterlos aufgewachsenen Juristen Debauer, der schon als Kind bei den Großeltern auf die Korrekturfahnen eines Romans ohne Titel und Autorennamen stieß. Er handelt von einem deutschen Soldaten, der aus dem Zweiten Weltkrieg nach langer Irrfahrt zurückkehrt und erkennen muß, daß seine Frau inzwischen mit einem anderen Mann eine Familie gegründet hat. Jahre später fallen dem mittlerweile erwachsenen Debauer erneut einzelne Seiten des Buches in die Hände, und er macht sich auf die Suche nach dem Autor. Bald verdichten sich die Indizien, daß der Roman von Debauers Vater stammt. Schließlich stellt sich heraus, daß der Vater nicht – wie Debauers Mutter behauptet – im Krieg umkam, sondern unter dem Namen de Baur als Jurist an einer New Yorker Universität lehrt und recht eigenwillige Thesen vertritt. Diese Geschichte wirkt auf den ersten Blick wie eine private Vatersuche, wie eine moderne Version der „Odyssee“, erzählt aus der Perspektive von Odysseus’ Sohn. Bei näherem Hinsehen entpuppt sie sich allerdings als politisches Generationendrama von fundamentalem Zuschnitt. Denn Schlinks Held, der Jurist Debauer jr. ist an einer Habilitationsschrift gescheitert, die zeigen sollte, „daß die Gerechtigkeit nur dann von Nutzen ist, wenn ihre Forderungen ohne Rücksicht auf gesellschaftlichen Nützlichkeit“ entfaltet werden. Sein Vater dagegen, de Baur sen., hat in Amerika die Deconstructionist Legal Theory begründet, die das Gegenteil beweisen will: Nämlich daß es Gerechtigkeit im Grunde gar nicht gibt, daß Gesetze immer mit Rücksicht auf ihre gesellschaftliche Nützlichkeit gemacht werden – und daß sich folglich ein echter Freigeist nicht an Gesetze gebunden fühlen muß, sondern selbst entscheiden kann, „was gut und was böse ist“. Schlink konfrontiert in diesen beiden Figuren aber nicht nur zwei unvereinbare rechtsphilosophischen Positionen, sondern zwei unterschiedliche Haltungen zum Leben. Der Vater, in der Schweiz geboren und aufgewachsen, entwickelt sich schon früh zum charismatischen Abenteurer und intellektuellen Hasardeur. Getreu seinem Motto, daß Gut und Böse nur eine Frage des historischen Augenblicks sind, engagiert er sich im Zweiten Weltkrieg für die Nazis, in den Nachkriegsjahren für die Kommunisten, in Amerika für die Demokratie – und bei all dem immer unbeirrbar für seine Karriere. Sein Sohn dagegen ist die Halbherzigkeit in Person: Er erprobt sich mal als Wissenschaftler, mal als Berufsaussteiger, mal als Lektor, mal sehnt er sich nach der lebenslangen Liebe, dann wieder versucht er sich als Casanova, der Frauen serienweise nach Plan verführt. Sogar die Recherchen nach seinem Vater betreibt er so unentschlossen, daß sie sich über Jahre hinziehen. „Mir kommt es vor“, stellt er sich selbst die heute gern für generationstypisch gehaltene Diagnose, „als hätte ich immer im Rückzug gelebt oder doch in der Bereitschaft, mich bei Widerstand sofort zurückzuziehen.“ Durch diese strikte Konfrontation zweier gegensätzlicher Charaktere wirkt Schlinks Buch wie eine Versuchsanordnung unter Laborbedingungen, wie ein Thesenroman, der am Reißbrett entworfen wurde. Auf der einen Seite die Vaterfigur, für die einige im Buch genannte Intellektuelle wie der Jurist Carl Schmitt und der Dekonstruktivist Paul de Man Modell gestanden haben – und für deren Mentalität der Historiker Michael Wildt unlängst die Formel von der „Generation des Unbedingten“ geprägt hat. Auf der anderen Seite der Sohn mit seiner brüchigen Bastelbiographie, der sich immerzu gezwungen fühlt, den verschiedenen, einander widerstreitenden Wertesysteme einer modernen Gesellschaft gerecht zu werden und der sich dabei regelmäßig verzettelt. Nun könnte eine solche Gegenüberstellung zweier Generationsrepräsentanten literarisch durchaus ihren Reiz haben – wenn beide Figuren tatsächlich eine Chance hätten, die Sympathie des Lesers zu erobern. Doch Vater de Baur ist ein Schweizer, der sich freiwillig den Nazis andient, der Mord als eine Art Kavaliersdelikt und Völkermord als einen Akt der Ritterlichkeit darstellt, der mit einer Frau schläft, nur um sich an ihr zu rächen, der seine notleidende Familie sitzen läßt und der seine Studenten gegen ihren Willen brutalen Psycho-Experimenten aussetzt. Kurz, Schlink schildert ihn nicht als Menschen, sondern als Monster. Gegen Ende des Buches werden de Baurs Thesen als „moderner intellektueller Faschismus“ bezeichnet. Dem stimmt man als Leser gern zu – und nimmt ansonsten aus dem der Roman wenig mehr mit als die nicht sehr originelle Erkenntnis, daß mit intellektuellen Faschisten nicht gut Kirschen essen ist. Hätte Schlink aus dem Stoff dieses Buches besser einen Essay als einen Roman gemacht? Ich weiß es nicht. Als Kritiker sollte man sich hüten, einem Schriftsteller ungebeten Ratschläge zu erteilen – noch dazu einem Schriftsteller vom Format Bernhard Schlinks. Sein Buch hat eine klare Botschaft: Es gibt Spielarten des Dekonstruktivismus, die, konsequent weitergedacht, zu haarsträubenden politischen Standpunkten führen. Ich zweifle nicht daran, daß diese Botschaft richtig ist. Aber ich bezweifle, daß es die Aufgabe eines Romans ist, solche handlichen Botschaften zu vermitteln. Schlinks Buch entfaltet keine Geschichte, sondern illustriert eine These, es zeigt keine Menschen, sondern führt soziologische Prototypen vor, es erzählt nicht, sondern es polemisiert.

Bernhard Schlink: Die Heimkehr. Diogenes, Zürich 375 S., 19.90 €

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