Raymond Carver gilt als bester amerikanischer Short-Story-Autor seit Hemingway. Doch fast alle seine Geschichten aus der vielgerühmten Sammlung Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden wurden brutal gekürzt. Jetzt erscheinen sie unter dem Titel Beginners im Original. Wie klang der legendäre Carver-Sound wirklich? Vom 7. auf den 8. Juli 1980 fand Raymond Carver keinen Schlaf. Morgens um 8 Uhr quälte er sich aus dem Bett, setzte sich an den Arbeitstisch und schrieb an seinen Lektor Gordon Lish. Es wurde kein gewöhnlicher Brief, es wurde ein Hilferuf, ein Verzweiflungsschrei. Dabei ging es Carver besser als je zuvor. Er hatte seine schwere Alkoholsucht, die ihn um ein Haar ins Grab gebracht hätte, seit drei Jahren hinter sich gelassen. Die Kritiker bejubelten sein erstes Buch mit Kurzgeschichten Würdest Du bitte still sein, bitte (1976). Die Syracus University wollte ihn als Literatur-Dozent haben. Und Alfred A. Knopf, einer der besten US-Verlage, gab ihm einen Vertrag für sein zweites Buch, wieder eine Sammlung mit Short Stories. Doch nun war das vom Lektor überarbeitete Manuskript dieses zweiten Buchs bei Carver eingetroffen. Lish hatte ganze Arbeit geleistet. Viele Geschichten hatte er um die Hälfte gekürzt, manche um 60 Prozent oder mehr, bei einer waren von 40 Seiten nur 9 übrig geblieben. Einige Figuren waren nach Lishs Änderungen aus dem Buch verschwunden, andere tauchten unter neuen Namen auf. Oft hatte Lish Geschichten seitenweise umgeschrieben, hier einen Mord gestrichen, da einen Selbstmord weggelassen, bei einigen Stories die entscheidende Schlusswendung neu erfunden. Kurz: Der Albtraum jedes Autors. Doch Carver konnte Lish nicht kurzerhand feuern. Die beiden arbeiteten seit Jahren zusammen. Lish hatte das Talent des ewig betrunkenen Carver erkannt, hatte dessen erste Erzählungen ähnlich rigoros bearbeitet und in den besten Zeitschriften des Landes untergebracht. Carver verdankte ihm alles: „Wenn ich jetzt so etwas wie Ansehen, Geltung oder Glaubhaftigkeit in der Welt besitze, dann ist das Dein Verdienst“, bekannte er in seinem Brandbrief. Carver flehte seinen gnadenlosen Lektor an, das neue Buch nicht in dieser Form zu drucken. Viele Streichungen seien „brillant“, aber wenn die Geschichten so erschienen, „kann ich mir selbst nicht in die Augen schauen und vielleicht nie wieder schreiben.“ Doch Carver war, nach den Worten seiner späteren Frau, „kein Kämpfer“. Schon zwei Tage später hatte Lish ihn umgestimmt, zermürbt willigte Carver in fast alle Änderungen ein. Als das zurechtgestutzte Buch 1981 unter dem Titel Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden herauskam, war der Erfolg sensationell: Publikum und Kritiker zeigten sich hingerissen. Seine Geschichten klangen nicht nach Literatur, sondern so hart und lakonisch wie das Leben selbst. Carver avancierte zu einem Kult-Autor, der vor allem für die Knappheit seines Stils gefeiert wurde. Dutzende von Autoren wie Ingo Schulze oder Judith Hermann eiferten seinem „Minimalismus“ nach, seiner Kunst der harten Schnitte, des Weglassens und Verschweigens. Wie viel von dieser Kunst sich den Strichen Lishs verdankte, kann inzwischen überprüft werden: Carver starb 1988, seine Witwe bestand in jahrelangen Kämpfen mit den Verlag darauf, das Originalmanuskript jenes zweiten Buches zu publizieren. Jetzt liegt es unter seinem ursprünglichen Titel Beginners in Deutsch vor (S. Fischer, 21,99 Euro). Die Neuausgabe ist doppelt so dick wie das alte Buch. Wer es sich leicht macht, nennt die Tonlage der Originale anders als die der gekürzten Carver-Geschichten. Wer es sich schwerer macht, fragt nach ihrer literarischen Qualität. Verglichen mit den von Lish bearbeiteten Stories, wirken sie konventioneller und oft regelrecht geschwätzig. So heißt es bei Lish über den nächtlichen Streit eines Ehepaars: Der Mann „nahm das Einmachglas und warf es durch das Küchenfenster“. Carvers Fassung lautet: „Er griff nach dem Glas und schleuderte es am Kühlschrank vorbei durchs Küchenfenster. Glasscherben fielen klirrend auf Fensterbank und Fußboden.“ Doppelt so viel Text für den gleichen Vorgang. Anderes Beispiel: Bei Carver tröstet ein Sohn seinen Vater: „Du kannst Dir nicht für alle Zeiten Vorwürfe machen.“ Der Vater antwortet schwer kitschverdächtig: „Für alle Zeiten. Wie lang ist das?“ Solche Dialoge vielen ausnahmslos den Strichen Lishs zum Opfer. Trost gibt es bei ihm nicht. Er sorgte dafür, dass Carvers Figuren zwar miteinander reden, dennoch aber sprachlos bleiben. Wie dringend Carver seinen Lektor brauchte, zeigt mancher herbe Schnitzer. Der Anfangssatz einer Geschichte lautet bei ihm: „Ein Mann ohne Arme stand vor der Tür“. Doch der Mann hat, so wird im Folgenden klar, lediglich seine Hände verloren und trägt stattdessen Haken an den Handgelenken. In Lishs Version lautet der Auftakt: „Ein Mann ohne Hände kam an die Tür.“ Dennoch wäre es falsch, Lish als das eigentliche literarische Genie zu betrachten, auf den Raymond Carvers Ruhm zurückgeht. Lish hat sich selbst als Schriftsteller versucht, aber mit den eigenen Büchern nie den Rang von Carvers Geschichten erreicht. Lish war definitiv nicht Carvers Ghostwriter. Doch zusammen waren sie offenkundig besser als jeder von ihnen allein. In der Hall of Fame der Weltliteratur werden üblicherweise nur Einzelplätze vergeben. Vielleicht wäre es in diesem Fall gerechter, einen Doppelsitz vorzusehen. Die Rezension erschien im Nachichtenmagazin „Focus“ vom 16. April 2012 Raymond Carver: „Beginners. Uncut – die Originalfassung“ Übersetzt von Manfred Allié, Gabriele Kempf-Allié, Antje Rávic Strubel S.Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012 360 Seiten, 21,99Euro ISBN 978-3100101501 Raymond Carver: „Wovon wir reden, wen wir von Liebe reden“ Übersetzt von Helmut Frielinghaus Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2012 164 Seiten, 8,99 Euro ISBN 978-3596903887
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