Der vollständige Lyriker Robert Gernhardt und der Büchnerpreis

Klarer Fall, Robert Gernhardt muß den Büchner-Preis kriegen. Soviel steht ohnehin fest für jeden, der seine fünf Sinne beisammen und noch alle Bücher im Regal hat. Nötig wäre das nicht zur höheren Ehre Gernhardts, der bei den Lesern längst Legende ist, sondern um der Deutschen Akademie, die den Preis vergibt, einen Anschein von Zurechnungsfähigkeit zu erhalten. Der Büchner-Preis hat ja in letzter Zeit Federn gelassen: Die konkurrierende Mainzer Akademie schickt einen Breitbach-Preis ins Rennen, der spürbar besser dotiert ist. Gleiches gilt für den Frankfurter Goethe-Preis, der dazu noch, wie der Friedenspreis des Buchhandels, international ein himmelweit höheres Ansehen genießt. Soll der Büchner-Preis weiter in der Spitzenliga mitspielen, darf er nicht komplett dösig vergeben werden. Sicher, Gernhardt begann als Autor im komischen Fach, ist aber inzwischen über alle Fächergrenzen hinausgewachsen. Sportreporter bejubeln manche Tennisprofis als „vollständige“ Spieler, weil sie über jede Schlagtechnik perfekt verfügen. In diesem Sinne ist Gernhardt heute ein vollständiger Lyriker. Er beherrscht alle Formen und Tonfälle, schreibt philosophische Gedichte ebenso wie melancholische, ironische wie elegische, Heine’sche wie schweinische. Dazu noch hat er eine Wirkungsgeschichte, nach der sich andere die Finger lecken. Vor Gründung der Neuen Frankfurter Schule, deren Lehrpersonal er angehört, waren im Nachkriegsdeutschland qualitätvoll komische Töne nur im Politkabarett, bei Loriot oder Erich Kästner zu hören. Die diversen Universen zuvor ganz ungeahnter Satire-, Parodie- oder Nonsens-Formen, die Gernhardt und seine Mitstreiter in den Magazinen „Pardon“ und „Titanic“ eroberten, haben die Mentalität einer Generation und damit des Landes aufs Angenehmste durchdrungen. Als ich einen Amtsträger der Akademie fragte, ob sie Gernhardt aus purer Humorlosigkeit übergingen, antwortete er (neben einigen hier nicht zitierfähigen Bemerkungen): „Wilhelm Genazino“. Richtig, auch Genazino schrieb einst für „Pardon“ und „Titanic“. Allerdings hat er danach 20 Jahre lang krachlangweilige, übellaunige Romane verfaßt, bevor er zwei gute ablieferte und prompt den Büchner-Preis bekam. Soll Gernhardt also erst 20 Jahre Fadheit vortäuschen, bevor die Akademie ihm zu verzeihen bereit ist, daß er über mehr Witz verfügt als so manches Akademiemitglied?

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