Ein Gespräch mit dem weltreisenden Schriftsteller Christoph Ransmayr über Neugier, rätselhafte Begegnungen und seinen »Atlas eines ängstlichen Mannes«
Uwe Wittstock: Herr Ransmayr, sind Sie ein ängstlicher Mann?
Christoph Ransmayr: Ja, aber ich leide nicht darunter, das wäre dann handfeste Angst. Ängstlichkeit ist eine Spielform der Wachsamkeit und Vorsicht. In dieser Haltung nimmt man die Welt genauer und vollständiger in den Blick, denn der Ängstliche lebt nicht nur in der Gegenwart, sondern zugleich in der Vergangenheit und Zukunft: Er bedenkt, was in ähnlichen Situationen früher einmal geschah, und was ihm also auch drohen könnte. Uwe Wittstock: Wer Ihr Buch „Atlas eines ängstlichen Mannes“ liest, hat nicht den Eindruck, dass Sie Risiken scheuen. Es gibt kaum eine Weltgegend, die sie nicht schon besuchten. Christoph Ransmayr: Die Risiken meiner Reisen sind immer kalkulierbar. Ich bereite mich ja vor und überlegt genau, worauf ich mich einlasse. Wogegen man zu Hause, im trügerischen Schutz der vertrauten Umgebung, sämtliche soziale Netze auffangbereit vor Augen, leicht in irgendwelche Fallen oder eben vor den Kühlergrill des nächsten Sattelschleppers läuft.
Uwe Wittstock: Sie waren auf Vulkanen, in Wüsten, am Nordpol, auf entlegensten Inseln oder hohen und allerhöchsten Bergen. Was treibt sie zu diesen extremen Reisen? Abenteuerlust?
Christoph Ransmayr: In erster Linie die Neugier und das Bedürfnis, genauer zu erfahren, wie es dem Nachbarn geht – gleichgültig, ob dieser Nachbar nun weit unterm Horizont in einer anderen Hemisphäre lebt oder gleich nebenan. Eine Reise, so wie ich sie verstehe, ist keine Frage großer Entfernungen. Das Fremde und Unbekannte kann auch in der Gasse gegenüber oder an der nächstbesten Bushaltestelle auf einen warten. Uwe Wittstock: Verbirgt sich hinter ihrer Ruhelosigkeit eine Neigung zur Flucht? Zumindest lassen die Geschichten, die Sie von ihrer österreichischen Heimat erzählen, nicht vermuten, Sie fühlten sich dort sonderlich wohl.
Christoph Ransmayr: Wer aufbricht, lässt immer etwas zurück, entweder freiwillig oder mit Wehmut. Es ist oft nicht einfach zu entscheiden, welches der beiden Elementen überwiegt. Ich glaube, für mich ist es eher die Verlockung der Ferne, die mich dazu bringt, mich auf und davon zu machen – und nicht der Wunsch, von dem Ort zu fliehen, an dem ich mich gerade befinde.
Uwe Wittstock: Was verlockt sie denn an fernen Ländern?
Christoph Ransmayr: Auf die Gefahr hin, mich lächerlich zu machen, behaupte ich: Es gibt keine Länder, es gibt nur Menschen. Natürlich gibt es Schauplätze und Landschaften, die einen oft grandiosen Hintergrund abgeben, vor dem sich dann Dramen, Komödien oder Katastrophen zutragen. Aber das Erste, was ich auf Reisen sehe, sind immer die Menschen. Wenn vor dem schroffesten Hochgebirgszug ein Wanderer durch den Schnee stapft oder am wunderbarsten tropischen Strand ein Mann im Sand sitzt, ist es dieser Mensch, der mich interessiert, seine Geschichte, seine Suche nach Glück oder seine Furcht vor Unglück. Mein Buch handelt nur in zweiter Linie vom Reisen, zuallererst sind in meinem Atlas Begegnungen mit Menschen verzeichnet und nicht Gebirge, Meere, Inseln oder Vulkane.
Uwe Wittstock: Was haben Sie bei diesen Begegungen entdecken können als Ursache für Glück und Unglück?
Christoph Ransmayr: Zum Ersten, was man entdeckt, gehört natürlich, dass es für Glück und Unglück keine Rezepte gibt. In keine Kultur, in keiner Religion. Doch sobald von Glück die Rede ist, muss man aufpassen, nicht ins Schwafeln zu geraten. Es ist möglich, vom Glück zu erzählen, von einzelnen, einmaligen Augenblicken, in denen ein einzelner, einmaliger Mensch Glück erlebt. Und vielleicht ist es sogar möglich, so davon zu erzählen, dass andere lesend eine ferne Ahnung dieses Glücks miterleben. Aber sobald jemand über Glück im Allgemeinen spricht, endet alles unausweichlich in Schwafelei, denn Glück im Allgemeinen gibt es nicht.
Uwe Wittstock: Die wirklich wichtigen Reisen, heißt es, finden nicht in der Welt, sondern im Kopf statt.
Christoph Ransmayr: Ich würde niemals versuchen, jemanden zum Reisen, zum Aufbruch in die Welt zu verführen. Ich bin kein Missionar. Aber Reisen im Kopf können doch nur stattfinden, wenn irgendjemand tatsächlich einmal aufgebrochen ist und Nachrichten von Unbekanntem aus der Fremde heim gebracht hat, die dann die Phantasie der zu Hause Gebliebenen beflügelten. Wenn ich nur in meinem Kopf bleiben will, ohne mir je Berichte derer anzuhören, die in die Ferne und zu anderen Menschen aufgebrochen sind, dann bleibe ich gefangen in mir und komme auch mit aller Phantasie nicht über ich selbst hinaus. Da gibt es dann keinen Kontakt mehr, sondern nur Selbstgenügsamkeit. Mir würde das nicht reichen.
Uwe Wittstock: Das letzte Wort Ihres Buches heißt „angekommen“. Gibt es für Sie, aller Ruhelosigkeit zum Trotz, das Gefühl angekommen zu sein?
Christoph Ransmayr: Das gibt es auf fast jeder Reise in irgendeinem Moment. Ich sitze an einem Tisch mit anderen Menschen oder liege allein in einem Zelt oder gehe durch eine Landschaft und habe mit einem Mal das Gefühl, dieses Augenblickes wegen bin ich aufgebrochen und hierher gefahren, jetzt bin ich da, jetzt bleibt nichts offen. All die unentwegten Gedanken und Fragen hören auf: Möchte ich noch zwei Tage weiter gehen? Muss ich noch diese Stadt oder jenes Tal sehen? Sollte ich noch den Verbindungsflug zu der anderen Insel buchen? All das verlöscht. Der Zweifel, ob der Ort, an dem ich mich gerade befinde, der richtig ist, hört auf und ich bin da und es ist gut.